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Welt im Fels

Welt im Fels

Titel: Welt im Fels
Autoren: Harry Harrison
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hätte in einem Tage und einer Nacht Omeyocan die Berge geschüttelt, bis sie einstürzten und dieses Tal für fünfmal hundert Jahre von der übrigen Welt abschlossen.
    Wie sah die Welt jenseits des Tales aus? Es gab dort Berge, das wußte er. Er konnte ihre fernen Gipfel sehen und den Schnee, der sie im Winter ganz in Weiß hüllte und im Sommer zu kleinen Flecken an den Nordhängen zusammenschrumpfte. Mehr wußte er nicht. Es mußte dort Dörfer geben, wie seines, das war anzunehmen. Auch dort mußte es Menschen geben. Aber was noch? Sie mußten Dinge wissen, die sein Volk nicht wußte, wie zum Beispiel, wo man Metall fand und wie man es gewann und verwertete. Es gab noch einige kostbare Äxte und Macheten im Tal, die aus einem blanken Material waren, das man Eisen nannte. Sie waren weicher als die Steinwerkzeuge, splitterten aber nicht so leicht und ließen sich immer wieder schärfen. Und die Priester hatten einen mit Edelsteinen besetzten Kasten aus diesem Material, den sie an besonderen Festtagen zeigten.
    Wie er sich wünschte, die Welt zu sehen, die diese Dinge hervorgebracht hatte!
    Chimal fühlte sich etwas benommen und taumelte. Er hatte sein Messer auf der Felsplatte liegenlassen. Er kletterte noch einmal hinauf und holte es. Seine Herstellung hatte ihn viele Stunden harter Arbeit gekostet. Aber die Fische waren vergessen. Er ging an dem umgestürzten Baum vorbei, gelangte auf den Pfad zwischen den Bäumen und trottete mit gesenktem Kopf zum Dorf zurück.
    Wo der Pfad am ausgetrockneten Flußbett entlangführte, sah er den Tempel und die Schule am andern Ufer. Ein Junge winkte herüber und rief ihm etwas zu, indem er die Hände trichterförmig an den Mund hielt. Er war aus Zaachila, dem anderen Dorf, und Chimal kannte seinen Namen nicht. Er blieb stehen und horchte.
    »Tempel …«, rief der Junge, und etwas, das wie Tezcatlipoca klang. Das konnte aber nicht sein, denn der Name des Herrn des Himmels und der Erde, des Urhebers und Heilers schrecklicher Krankheiten, durfte nicht leichtfertig im Mund geführt werden. Der Junge merkte, daß er nicht verstanden wurde, rannte den Uferhang herunter und planschte durch den schmalen Bach in der Mitte des Flußbetts. Er keuchte, als er zu Chimal heraufgeklettert kam, seine Augen waren schreckgeweitet, und er sagte erregt: »Kennst du Popoca, einen Jungen aus unserem Dorf? Er hat seltsame Dinge gesehen und anderen davon erzählt, und die Priester haben davon gehört und ihn zu sich bestellt, und sie sagen, daß er von … Tezcatlipoca besessen sei. Sie haben ihn in die Tempelpyramide gebracht.«
    »Warum?« fragte Chimal und kannte die Antwort, bevor sie ausgesprochen wurde.
    »Citlallatonac wird den Gott befreien.«
    Sie mußten natürlich hingehen, denn einer so bedeutenden Zeremonie hatten alle beizuwohnen. Chimal wollte sie nicht sehen, aber er sträubte sich nicht, weil es seine Pflicht war, dabei zu sein. Er verließ den Jungen, als sie das Dorf erreichten, und ging nach Hause. Aber seine Mutter war schon gegangen, wie fast alle anderen. Er versteckte sein Messer im Haus und ging den ausgetretenen Pfad entlang, der talabwärts zum Tempel führte. Die Menge hatte sich am Fuß des Tempels versammelt und harrte stumm auf den Beginn der Zeremonie. Auf einem Hügel stand der Steinblock, mit durchgehenden Löchern versehen und vom Blut unzähliger Opfer getränkt. Ein junger Bursche wurde auf den Block gebunden, ohne sich zu wehren. Einer der Priester beugte sich über ihn, setzte ein Rohr an die Lippen und blies dem Jungen ins Gesicht. Für einen Augenblick war der Kopf des Opfers in eine weiße Wolke gehüllt. Yauhtli, das Pulver aus der Wurzel der Pflanze, die Schmerzen vergessen ließ. Als Citlallatonac erschien, hatten die untergeordneten Priester dem Jungen schon den Kopf rasiert, so daß das Ritual beginnen konnte. Der Oberpriester trug selbst die Schale mit den Werkzeugen, die er benötigte. Ein Zucken ging durch den Körper des Jungen, aber er schrie nicht, als der Oberpriester ihn skalpierte und die Prozedur begann.
    Die Menge kam in Bewegung, als die rotierende Pfeilspitze in die Schädeldecke eindrang, und ohne es zu wollen, fand sich Chimal plötzlich in der vordersten Reihe. Von hier aus waren alle Einzelheiten schmerzhaft deutlich zu sehen, wie der Oberpriester eine Reihe von Löchern in den Kopf bohrte, sie miteinander verband – und dann mit einer geübten Bewegung die Schädeldecke abhob.
    »Du kannst jetzt hervorkommen, Tezcatlipoca«, rief der
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