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Welt im Fels

Welt im Fels

Titel: Welt im Fels
Autoren: Harry Harrison
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Priester wußten es und schlugen dich. Jetzt redest du wie damals, als du noch jung warst. Wenn du nicht tust, was ich dir sage, dann …«, er suchte nach Worten, »dann muß ich es den Priestern melden.«
    Plötzlich überwältigte Chimal die Erinnerung an das schwarze Messer, das in die weiße Masse in Popocas Schädel glitt. Wenn die Priester zu dem Ergebnis kamen, daß auch er von einem bösen Geist besessen sei, würden sie ihn auf dieselbe Weise befreien. So war das also, erkannte er plötzlich. Es blieben nur zwei Möglichkeiten; eine andere Wahl hatte es nie gegeben. Man konnte sich unterordnen und das tun, was alle anderen taten – oder man mußte sterben. Er hatte die Wahl.
    »Ich werde das Mädchen heiraten«, sagte er.
     
5.
     
    Jemand reichte ihm eine Schale mit octli. Chimal vergrub sein Gesicht darin und sog den sauren, starken Geruch ein, bevor er trank. Er saß allein auf der neuen gewebten Grasmatte, war aber ringsum von lärmenden Angehörigen seiner und Malinches Sippe umgeben. Sie saßen auf dem Sandplatz in der Mitte des Dorfes, der kaum groß genug für alle Gäste war. Chimal drehte sich um und sah seine Mutter lächeln, wie sie seit Jahren nicht mehr gelächelt hatte, und er wandte sich so schnell ab, daß der octli über seinen tilmantl, seinen neuen weißen Hochzeitsmantel schwappte. Er versuchte die klebrige Flüssigkeit abzuwischen, hielt aber inne, als die Menge plötzlich verstummte.
    »Sie kommt«, flüsterte jemand, und alle drehten den Kopf, um sie zu sehen. Chimal starrte in die leere Schale und sah auch nicht auf, als die Gäste zur Seite rückten, um die Heiratsvermittlerin durchzulassen. Die alte Frau schwankte unter der Last der Braut. Sie blieb am Rand der Matte stehen und setzte Malinche vorsichtig darauf ab. Malinche trug auch einen neuen weißen Mantel, und ihr Mondgesicht war mit Erdnußöl eingerieben, um ihre Haut glänzend und ihre Züge anziehender zu machen. Sie ließ sich nieder und nahm eine entspannte kniende Haltung ein, wie ein Hund, der es sich bequem macht. Dann richtete sie ihre runden Augen auf Cuauhtemoc, der aufstand und eindrucksvoll die Arme ausbreitete. Als Anführer der Sippe des Bräutigams hatte er das Recht, zuerst zu reden.
    »Wir sind hier zusammengekommen zu einer wichtigen Verbindung der Sippen. Ihr werdet euch erinnern, daß damals, als Otihuac starb, in der Hungersnot nach der Zeit, als der Mais nicht reif wurde, er eine Frau namens Quiauh hatte, und sie ist hier unter uns, und er hatte einen Sohn, und sein Name ist Chimal, und er sitzt hier auf der Matte …«
    Chimal hörte nicht zu. Er war schon bei Hochzeiten gewesen, und diese würde nicht anders sein. Die Anführer der Sippen würden lange Reden halten, dann würde die Heiratsvermittlerin eine lange Rede halten und andere, die sich berufen fühlten, würden auch lange Rede halten. Viele der Gäste würden einnicken und viel octli würde getrunken werden, und schließlich, kurz vor Sonnenuntergang würde man ihre Mäntel miteinander verknoten, um sie auf Lebenszeit miteinander zu verbinden. Danach würde es noch mehr Reden geben. Erst bei Einbruch der Dunkelheit würde die Zeremonie enden, und die Braut würde mit ihrer Familie nach Hause gehen. Malinche hatte auch keinen Vater, aber sie hatte Onkel und Brüder. Sie würden sie nehmen, und die meisten von ihnen würden in dieser Nacht mit ihr schlafen. Da sie ihrer Sippe angehörte, war es ihr Recht und ihre Pflicht, daß sie den Bräutigam vor den schrecklichen Gefahren der ersten Nacht bewahrten, indem sie irgendwelche auf der Braut ruhenden Flüche auf sich nahmen. Erst in der nächsten Nacht würde sie in Chimals Haus ziehen.
    Ihm war das alles bekannt, und er machte sich nichts daraus. Er wußte wohl, daß er jung war, doch er kam sich in diesem Augenblick vor, als wäre er schon am Ende seines Lebens angelangt. Er sah die Zukunft und sein restliches Leben so klar vor sich, als hätte er es schon erlebt. Malinche würde zweimal täglich Tortillas für ihn backen und einmal im Jahr ein Kind gebären. Er würde den Mais pflanzen und den Mais ernten, und jeder Tag würde sein wie alle anderen, und eines Tages würde er alt sein, und dann würde er sterben.
    Das war der Weg, den er zu gehen hatte. Er streckte die Hand nach mehr octli aus, und seine Schale wurde wieder gefüllt. So würde es sein. Es gab nichts anderes, und er konnte sich nichts anderes vorstellen.
    Viel später erwachte Chimal aus seinen Gedanken. Die Anführer der
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