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Welt im Fels

Welt im Fels

Titel: Welt im Fels
Autoren: Harry Harrison
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beiden Sippen schritten feierlich vor, ergriffen die weißen tilmantli und schickten sich an, die Hochzeitsmäntel miteinander zu verknoten. Chimal blickte auf die rauhen Hände, die an seinem Mantel zerrten, und plötzlich kam der Wahnsinn über ihn.
    Er sprang auf und riß dem Mann seinen Mantelsaum aus den Fingern.
    »Nein, ich tue es nicht«, schrie er mit seiner vom octli rauhen Stimme. »Ich werde weder sie noch eine andere heiraten.«
    Er schritt in der Dämmerung davon. Entsetztes Schweigen fiel über den Dorfplatz, und niemand machte den Versuch, ihn aufzuhalten.
     
6.
     
    Vielleicht sahen die Dorfbewohner zu, aber blicken ließen sie sich nicht.
    Chimal ging mit erhobenem Haupt und schritt so kräftig aus, daß die beiden Priester Mühe hatten, mit ihm Schritt zu halten. Seine Mutter hatte aufgeschrien, als sie gleich nach Tagesanbruch gekommen waren, um ihn zu holen. Jeder der beiden trug ein maquahuitl, die tödlichste aller Aztekenwaffen. Die in die Hartholzgriffe eingelassenen Obsidianklingen waren scharf genug, um einem Mann mit einem Schlag den Kopf abzutrennen. Diese Gewaltandrohung war nicht notwendig gewesen. Chimal war hinter dem Haus gewesen, als er ihre Stimmen hörte. »Zum Tempel also«, hatte er geantwortet, seinen Mantel um die Schultern geworfen und ihn im Gehen zugebunden. Die jungen Priester mußten sich beeilen, um ihm zu folgen.
    Er wußte, daß er fürchterliche Angst vor dem haben sollte, was ihn im Tempel erwartete, und doch war er unerklärlicherweise gehobener Stimmung. Es war ihm, als wäre eine große Last von seiner Seele genommen worden, und so war es auch wirklich. Zum erstenmal seit seiner Kindheit hatte er nicht gelogen, um seine Gedanken zu verbergen. Er hatte ausgesprochen, was er für richtig hielt, allen anderen zum Trotz.
    Sie warteten bei der Pyramide auf ihn. Die Priester versperrten ihm den Weg, und zwei der stärksten faßten ihn an den Armen. Er machte keinen Versuch, sich zu befreien, als sie ihn über die Stufen hinaufführten. Er hatte den Tempel auf dem Gipfel noch nie betreten; normalerweise schritten nur Priester durch den Eingang mit dem Fries aus scheußlichen Schlangen, die Skelette ausspien. Seine Hochstimmung wurde etwas gedämpft. Er wandte sich ab und warf noch einen Blick über das Tal.
    »Bringt ihn herein!« rief Citlallatonacs Stimme aus dem Tempel, und sie stießen ihn hinein.
    Der Oberpriester saß mit gekreuzten Beinen auf einem verzierten Steinblock vor einer Statue von Coatlicue. In dem Dämmerlicht des Tempels wirkte die Göttin erschreckend lebensecht. Sie war bemalt, glasiert und mit Edelsteinen und Blattgold geschmückt. Ihre beiden Köpfe sahen ihn an, und ihre Arme mit den scharfen Scheren schienen ihn packen zu wollen.
    »Du warst ungehorsam gegen den Sippenältesten«, sagte der Oberpriester laut. Die anderen Priester traten zurück, daß Chimal sich ihm nähern konnte. Chimal trat nahe heran, und aus der Nähe merkte er, daß der Priester viel älter war, als er gedacht hatte.
    »Du warst ungehorsam. Kennst du die Strafe?« Die Stimme des alten Mannes war schrill vor Wut.
    »Ich war nicht ungehorsam, deshalb gibt es keine Strafe.«
    Der Priester fuhr hoch vor Erstaunen, als er diese ruhig gesprochenen Worte hörte. »Du hast schon einmal so gesprochen und wurdest geschlagen, Chimal. Du hast einem Priester nicht zu widersprechen.«
    »Ich widerspreche nicht, ehrwürdiger Citlallatonac, sondern erkläre nur, was geschehen ist …«
    »Mir gefällt der Ton deiner Erklärung nicht«, unterbrach ihn der Priester schneidend. »Kennst du deinen Platz in dieser Welt nicht? Du hast es in der Tempelschule gelernt, zusammen mit all den anderen Jungen. Die Gesetze der Götter. Die Priester legen sie aus. Das Volk gehorcht. Deine Pflicht ist zu gehorchen.«
    »Ich tue meine Pflicht. Ich gehorche den Göttern. Ich gehorche meinen Mitmenschen nicht, wenn sie sich nicht an das Wort der Götter halten. Das wäre Gotteslästerung, und darauf steht die Todesstrafe. Da ich nicht sterben möchte, gehorche ich den Göttern, selbst wenn Sterbliche mir deshalb zürnen.«
    Der Priester blinzelte nervös und wischte sich mit seinem schmutzigen Zeigefinger etwas aus dem Augenwinkel. »Was sollen deine Worte bedeuten?« fragte er schließlich unsicher. »Die Götter haben deine Hochzeit befohlen.«
    »Das haben sie nicht – Menschen haben das getan. Es steht in den heiligen Büchern, der Mann soll heiraten und fruchtbar sein und das Weib soll heiraten und
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