Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Welt im Fels

Welt im Fels

Titel: Welt im Fels
Autoren: Harry Harrison
Vom Netzwerk:
fruchtbar sein. Aber es steht nicht geschrieben, in welchem Alter sie heiraten sollen, oder daß sie zur Heirat gegen ihren Willen gezwungen werden müssen.«
    »Männer heiraten mit einundzwanzig, Frauen mit sechzehn …«
    »Das ist allgemeiner Brauch, aber nur ein Brauch. Er hat nicht das Gewicht eines göttlichen Gesetzes …«
    »Du hast schon einmal widersprochen«, sagte der Priester schrill, »und wurdest geschlagen. Du kannst wieder geschlagen werden …«
    »Ein Junge wird geschlagen. Ihr könnt nicht einen Mann dafür schlagen, daß er die Wahrheit sagt. Ich verlange nur, daß das Gesetz der Götter befolgt wird.«
    »Bringt mir die Gesetzbücher!« rief der Oberpriester den anderen zu, die draußen warteten. »Diesem Mann müssen wir die Wahrheit beweisen, bevor wir ihn bestrafen. Ich muß ihn an die Gesetze erinnern.«
    In ruhigem Ton sagte Chimal: »Ich erinnere mich klar an sie. Sie lauten so, wie ich dir sagte. Ich erinnere mich auch daran, was du uns über die Sonne und die Sterne erzähltest, du hast uns aus den Büchern vorgelesen. Die Sonne ist ein Ball aus brennendem Gas, der von den Göttern bewegt wird, sagtest du nicht so? Oder sagtest du, die Sonne sei eine große, mit Diamanten besetzte Muschel?«
    »Was sagst du da über die Sonne?« fragte der Priester stirnrunzelnd.
    »Nichts«, sagte Chimal. Etwas, dachte er im stillen, das ich nicht laut auszusprechen wage, sonst wäre ich bald so tot wie Popoca, der den Strahl als erster sah. Ich habe ihn auch gesehen, und es sah so aus, wie wenn die Sonne auf Wasser oder auf Diamant schiene. Warum hatten die Priester nichts von dem Ding am Himmel erzählt, das diesen Lichtblitz erzeugte? Er unterbrach diese Gedanken, als die Priester die heiligen Bände hereintrugen.
    Die Bücher waren in Menschenhaut gebunden und uralt. An Festtagen lasen die Priester aus ihnen vor. Nun legten sie sie auf die Steinbank und zogen sich zurück. Citlallatonac schob sie hin und her, hielt erst eins zum Licht, dann das andere.
    »Ihr müßt das zweite Buch von Tezcatlipoca lesen«, sagte Chimal. »Und wovon ich spreche, steht auf der dreizehnten oder vierzehnten Seite.«
    Ein Buch fiel mit lautem Knall zu Boden, und der Priester sah Chimal mit weit aufgerissenen Augen an. »Woher weißt du das?«
    »Weil es mir gesagt wurde und ich mich erinnern kann.«
    »Du kannst lesen, deshalb weißt du es. Du bist heimlich in den Tempel gekommen, um die verbotenen Bücher zu lesen …«
    »Rede keinen Unsinn, Alter! Ich bin noch nie in diesem Tempel gewesen. Ich erinnere mich daran, das ist alles. Und ich kann lesen, wenn du es wissen willst. Das ist auch nicht verboten. In der Tempelschule lernte ich die Zahlen wie alle anderen Kinder, und ich lernte meinen Namen schreiben, wie sie auch. Als die anderen Kinder ihren Namen schreiben lernten, hörte ich zu und lernte es mit, deshalb weiß ich jetzt, wie alle Buchstaben geschrieben werden.«
    Dem Priester fehlten die Worte, und er antwortete nicht. Statt dessen wühlte er in den Büchern, bis er das fand, das ihm Chimal genannt hatte, schlug langsam die Seiten um und formte beim Lesen die Worte mit dem Mund. Er las, blätterte zurück und las wieder – und ließ das Buch dann fallen.
    »Siehst du, ich habe recht«, sagte Chimal. »Ich werde heiraten, bald, ein Mädchen, das ich mir selbst aussuchen werde, nachdem ich mich lange und gründlich mit der Heiratsvermittlerin und dem Sippenältesten beraten habe. So soll es nach dem Gesetz sein …«
    »Schreibe du mir nicht die Gesetze vor, du Wicht! Ich bin der Oberpriester. Ich bin das Gesetz, und du wirst mir gehorchen!«
    »Wir gehorchen alle, großer Citlallatonac«, antwortete Chimal ruhig. »Keiner von uns steht über den Gesetzen, und wir haben alle unsere Pflichten.«
    »Meinst du mich? Wagst du es, die Pflichten eines Priesters zu erwähnen, du, ein … ein Nichts? Ich kann dich töten.«
    »Warum? Ich habe nichts Unrechtes getan.«
    Der Priester war aufgesprungen. Er kreischte vor Zorn.
    »Du streitest mit mir, du gibst vor, das Gesetz besser zu kennen als ich, du liest, obwohl wir dich nie lesen lehrten. Es ist einer der schwarzen Götter in dich gefahren, ich weiß es, und ich werde diesen Gott aus deinem Kopf befreien.«
    Voll eiskalter Wut auf diesen einfältigen Greis konnte Chimal einen verächtlichen Zug um seinen Mund nicht verbergen. »Ist das alles, was du kannst, Oberpriester? Einen Mann töten, der anderer Meinung ist als du? Was bist du für ein Priester?«
    Mit
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher