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Welt im Fels

Welt im Fels

Titel: Welt im Fels
Autoren: Harry Harrison
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Mutter antwortete nicht. Sie sah nicht von ihrer Arbeit auf. Malinche war gegangen. Chimal eilte zwischen den Häusern hindurch zu dem Pfad, der durch die Kakteen und Felsen zum südlichen Ende des Tales führte. Es war immer noch sehr heiß, und vom Rand der Schlucht sah er unten den Fluß, der um diese Jahreszeit zu einem dünnen Rinnsal geschrumpft war. Er eilte zu dem staubigen Grün der Bäume am Ende des Tales. Die fast senkrechten Felswände rückten immer näher zusammen, je weiter er ging. Es war kühler hier unter den Bäumen. Einer war umgestürzt, seit er das letztemal hier gewesen war.
    Dann kam er an den Tümpel unter der Felswand. Chimal hob seinen Blick zu dem dünnen. Wasserfall, der von hoch oben herunterrieselte. Das Wasser plätscherte in den Tümpel. Dort würde es Fische geben, unter den Steinen am Ufer versteckt, große Fische mit süßem Fleisch. Mit seinem Messer schnitt er einen langen, dünnen Ast ab und schnitzte sich einen Fischspeer.
    Auf einer den Tümpelrand überhängenden Felsplatte liegend, spähte er hinunter in das klare Wasser. Es blitzte silbern auf, als ein Fisch in den Schatten huschte; er war außer Reichweite. Die Luft war trocken und heiß, das ferne Hämmern eines Vogelschnabels auf Holz klang unnatürlich laut in der Stille. Zopiloten ernährten sich von Aas, sogar von Menschenfleisch, das hatte er selbst gesehen. Wann? Vor fünf oder sechs Jahren?
    Chimal versuchte diese Erinnerung aus seinen Gedanken zu verbannen – aber diesmal gelang es ihm nicht. Der Zorn, der ihn auf dem Feld wie ein Pfeil getroffen hatte, saß immer noch schmerzhaft in seinem Gehirn, und in einem plötzlichen Anfall von Wut hielt er die Erinnerung an jene Nacht fest. Was hatte er gesehen? Der Mensch war das einzige Lebewesen, das groß genug war, um solche Fleischbrocken zu liefern. Einer der Götter hatte sie dort hingelegt, vielleicht Mixtec, der Totengott, um seine Diener, die Geier, zu füttern. Chimal hatte die Opfergaben des Gottes gesehen und war geflohen – und nichts war geschehen. Seit jener Nacht hatte er schweigend auf die Rache des Gottes gewartet, aber sie hatte ihn bis heute nicht getroffen.
    Wohin waren die Jahre? Was war aus dem Jungen geworden, der immer Fragen stellte, auf die es keine Antworten gab? Der Stachel saß tief in Chimals Seele. Er drehte sich auf den Rücken und sah zum Himmel hinauf, wo ein Geier wie ein böses schwarzes Omen lautlos über den Himmel glitt und hinter der Felswand verschwand. Warum ist es plötzlich wieder da und beunruhigt mich?
    Mit einem Sprung war er auf den Beinen und sah sich um, als suchte er etwas zum Töten. Jetzt war er ein Mann, und die Leute würden ihn nicht mehr ungeschoren lassen wie bisher. Er würde Pflichten haben, er würde neue Dinge tun müssen. Er würde sich eine Frau nehmen und ein Haus bauen müssen und Familie haben und alt werden und am Ende …
    »Nein!« schrie er und sprang von der Felsplatte. Das Wasser, eisig kalt, Schmelzwasser aus den schneebedeckten Bergen, schlug über ihm zusammen und er sank tief. Aber dann begann seine Brust zu brennen, und seine Hände ruderten ohne sein Zutun und ließen ihn wie einen Pfeil zur Oberfläche schießen. Sein Mund öffnete sich von selbst, und er atmete tief die wohltuende Luft ein.
    Als er herausgeklettert war und am Rand des Tümpels stand, blickte er die Felswand hinauf, von der das Wasser stürzte. Und dann, wie in einer plötzlichen Offenbarung, wußte er, daß er nicht in diesem Tal bleiben konnte, diese Welt erstickte ihn. Wenn er ein Vogel gewesen wäre, hätte er davonfliegen können. Es hatte einst einen Weg aus dem Tal gegeben, das mußten herrliche Zeiten gewesen sein, aber ein Erdbeben hatte jeden Zugang zur Außenwelt verschüttet. Es gab kein Entrinnen. Oder doch? Vor seinem inneren Auge sah er den Sumpf am anderen Ende des langen Tales, am Fuß der riesigen Halde von Geröll und Felsbrocken, die den Ausgang versperrte. Das Wasser sickerte langsam zwischen den Steinen hindurch, und die Vögel flogen darüber weg, aber für die Menschen des Tales gab es keine Möglichkeit, das Hindernis zu überwinden. Sie waren eingesperrt durch die ungeheuren überhängenden Felsblöcke und durch den Fluch, der noch unüberwindlicher war. Es war Omeyocans Fluch, und er ist der Gott, dessen Name nie laut ausgesprochen werden durfte, damit er es nicht hörte. Man sagte, die Menschen hätten die Götter vergessen, und die Tempel wären staubig und die Opferaltäre trocken gewesen. Da
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