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Wells, ich will dich nicht töten

Wells, ich will dich nicht töten

Titel: Wells, ich will dich nicht töten
Autoren: Dan Wells
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vermissen sie alle.« – »Du bist tapfer, dass du so bald schon wieder in den Unterricht kommst.« Ich fühlte mich überhaupt nicht tapfer, nur betäubt. Mir war kalt, ich war müde.
    Ich hatte die ganze Nacht mit einem Schraubenzieher und zwei Bolzenschneidern im Auto verbracht, die Innenverkleidung entfernt und die Seilzüge der Verriegelung und der Fenster lahmgelegt. Die Schlösser funktionierten noch, doch wenn jemand im Innern saß, konnte er sich aus eigener Kraft nicht mehr befreien. Ich hatte Glück, dass mein Auto so alt war, denn gegen moderne Elektronik und elektrische Fensterheber hätte ich nicht viel ausgerichtet. Bei neuen Autos verbessert das wohl die Sicherheit, dachte ich. Wenn bei alten Autos wie meinem etwas mit den Türen passiert, bilden sie eine Todesfalle.
    Die Schulglocke schrillte, die Horden der Schüler summten wie Bienenschwärme, die Flure füllten und leerten sich. Kalt und bleich stand die Sonne am Himmel. Wie eine Scheibe aus Eis. Ich kam mir vor wie ein körperloses Gespenst, als ich, von den meisten unbemerkt und von den übrigen gemieden, durch die Schule geisterte, schweigsam, düster und innerlich wie gestorben. Als der Unterricht endlich beendet war, schlurfte ich zum Auto, fuhr zur Tankstelle und füllte vier Zwanzigliterkanister mit Benzin. Achtzig Liter. Das reichte aus, um unsere große Schneefräse während mehrerer heftiger Schneestürme zu betreiben. Es reichte auch für ein immens großes Feuer. Ich schob alle Gedanken und Gefühle beiseite – die Nervosität, die Ängste, die Sorgen. Ich war ein Soziopath. Ich war eine Maschine, ich war eine Windbö. Namenlos, gesichtslos, ohne Schuld.
    Drei Kanister stellte ich mit abgeschraubten Deckeln auf den Rücksitz. Direkt daneben wuchtete ich eine Kiste mit alten Zeitschriften, die ich aus Pfarrer Eriksons Haus gestohlen hatte. Den letzten Kanister brachte ich zusammen mit einem kleinen Trichter aus unserer Küche im Kofferraum unter. Streichhölzer musste ich nicht stehlen, ich hatte immer ein Briefchen in der Tasche. Dann setzte ich mich hinters Lenkrad und überprüfte mit dem Finger das Loch, das ich mit einem einzigen Schuss aus Max’ schallgedämpfter Pistole in das Dach gestanzt hatte.
    Ich fuhr zum See, hielt auf halbem Weg an und kippte zwei Kanister Benzin über die Zeitschriften und die hinteren Polster. Der Geruch war schrecklich, aber ich konnte es ertragen.
    Anschließend fuhr ich die Straße hinunter und suchte nach Niemand. Sie stand fast am anderen Ende und winkte mir an einer unbefestigten Seitenstraße zu. Ich bremste ab, fuhr langsam vorbei und hielt hinter einer Baumgruppe an. Es war eine gute Stelle. Die Straße verlief weiter am See entlang, doch hier draußen waren meilenweit nichts und niemand in der Nähe. Höchst unwahrscheinlich, dass andere Autofahrer vorbeikamen und uns sahen. Ich stieg aus und schloss die Fahrertür ab. Sie würde sich nie wieder öffnen. Niemand kam auf mich zu und lächelte mit Brookes Lippen.
    »Da bist du ja!« Dann hustete sie und wedelte mit der Hand vor der Nase. »Oh, das Benzin für die Schneefräse, was?«
    »Die Kanister sind ziemlich alt, da entweichen ständig Dämpfe.«
    »Wenigstens kann das Auto auslüften, während wir angeln gehen. Ich habe die Sachen gleich hier.« Sie deutete zu den Bäumen hinüber, wo sie ihr Fahrrad angelehnt hatte. Daneben entdeckte ich zwei Angelruten und einen Rucksack.
    »O Mann«, sagte ich betont munter, »hast du das alles mit dem Fahrrad hergeschleppt?«
    »Ja, da sagst du nichts mehr«, verkündete sie. »Und ich bin nicht das erste Mal mit dem Rad zum Angeln hier.« Sie kam mir noch näher. »Aber es ist das erste Mal, dass ich mit so einem hübschen jungen Mann hier bin.«
    »Ja.« Ich sah mich um. Es passte. Denk nicht nach, zaudere nicht, tu es einfach!, ermutigte ich mich im Stillen. »Ich hatte eigentlich an eine andere Stelle gedacht. Sie liegt etwas weiter hinten, dort sind wir noch weiter von der Straße entfernt. Es ist hübsch dort.«
    »Wirklich?«
    »Ja. Sehr abgeschieden.«
    »Das gefällt mir.« Sie lächelte. »Aber dieses Mal schleppe ich die Angelruten nicht.« Sie ging zum Fahrrad. »Machen wir ein Wettrennen?«
    »Du kannst auch bei mir mitfahren, dann legen wir das Fahrrad in den Kofferraum.«
    »Ersticken wir nicht an den Benzindämpfen?«
    »Ich hab’s ja schließlich bis hierher geschafft, oder? Wir kurbeln die Fenster herunter, dann geht’s schon.«
    Sie lächelte. »Dann lass es uns so machen.«
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