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Wells, ich will dich nicht töten

Wells, ich will dich nicht töten

Titel: Wells, ich will dich nicht töten
Autoren: Dan Wells
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das Fenster. Sie blickte umher, starrte mit weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit hinaus und zog rasch die Vorhänge vor. Lächelnd nahm ich wahr, wie sie durch die Nase atmete, ein und aus, ein und aus. »Wer sind Sie?«, fragte sie noch einmal.
    Die Angst war echt, sie verstellte sich nicht. Sie machte sich ernstlich Sorgen um ihren Sohn. Hieß das nun, dass sie unschuldig war? Oder log sie nur geschickt?
    Julie Andelin hatte fast fünfzehn Jahre lang, also praktisch seit dem Schulabschluss, bei der Bank gearbeitet und letzte Woche gekündigt. So etwas war für sich genommen keineswegs verdächtig und hatte meistens nichts weiter zu bedeuten, als dass jemand den Arbeitsplatz wechseln wollte. Allerdings konnte ich es mir nicht erlauben, auch nur den kleinsten Hinweis zu übersehen. Ich wusste nicht genau, wozu Dämonen fähig waren, aber ich hatte bereits einen Dämon beobachtet, der einen Menschen getötet und dessen Platz eingenommen hatte, und es war nicht auszuschließen, dass dieser hier ebenfalls dazu fähig war. Vielleicht war die Arbeit hinter dem Bankschalter für Julie Andelin auf einmal langweilig geworden, aber vielleicht war sie auch tot und verscharrt, und etwas anderes, das mit dem bisherigen Alltagsleben nicht so gut zurechtkam, hatte ihren Platz eingenommen. Die plötzliche Veränderung des Lebensstils war aus einem gewissen Blickwinkel das Verdächtigste schlechthin.
    »Was haben Sie mit meinem Sohn zu schaffen?«
    Sie klang so aufrichtig wie jede andere Mutter, mit der ich in den letzten zwei Monaten gesprochen hatte. Dreiundsechzig Tage, und ich hatte immer noch nichts erreicht. Ich wusste, dass eine Dämonin im Anmarsch war, weil ich sie selbst angelockt hatte. Ich hatte sie mit einem Handy buchstäblich herbestellt. Ihr Name war Niemand. Ich hatte ihr erzählt, dass ich ihre Freunde getötet hatte, nachdem diese meine Heimatstadt terrorisiert hatten, und jetzt würde ich sie aktiv bekämpfen. Mein Plan sah vor, sie der Reihe nach alle zu erledigen, bis wir wieder Frieden hatten. Niemand sollte mehr in Angst leben müssen.
    »Lassen Sie uns in Ruhe!«, kreischte die Frau.
    Ich senkte die Stimme ein wenig. »Ich habe einen Schlüssel zu Ihrem Haus.« Das entsprach nicht der Wahrheit, klang am Telefon aber großartig. »Sehr hübsch, was Sie aus Jordans Zimmer gemacht haben.«
    Sie legte auf, und ich schaltete das Handy ab. Keine Ahnung, wem es einmal gehört hatte. Es ist erstaunlich, was die Leute alles im Kino liegen lassen. Dieses hatte ich bisher für fünf Anrufe benutzt, also war es wohl an der Zeit, es wegzuwerfen. Ich entfernte mich, überquerte den Parkplatz eines Wohnblocks und öffnete unterwegs das Gehäuse, um den Akku und die SIM -Karte zu entsorgen. Jedes Einzelteil warf ich in eine andere Mülltonne, dann streifte ich die Handschuhe ab und verzog mich durch eine Lücke im rückwärtigen Zaun. Mein Fahrrad stand einen halben Block entfernt hinter einem Müllcontainer. Im Gehen überflog ich die Liste, die ich mir eingeprägt hatte, und strich Julie Andelin. Sie war eindeutig eine echte Mutter und keine dämonische Hochstaplerin. Es war ohnehin nur ein Schuss ins Blaue gewesen. Ich hatte ihren Sohn kaum mehr als fünf Minuten lang beobachtet, aber mehr braucht man auch nicht, wenn man weiß, wie man es anfangen muss. Sagen Sie einer Mutter etwas Unheimliches wie Ihre Tochter sieht in dem blauen Kleid wirklich reizend aus , und sofort springen die Mutterinstinkte an. Sie befürchtet ganz von selbst das Allerschlimmste, man muss ihr nicht einmal drohen. Es spielt auch keine Rolle, dass die Tochter nie im Leben ein blaues Kleid getragen hat. Sobald diese starke, urtümliche Angst aufkommt, ist sie Antwort genug, und Sie können sich die nächste Frau mit einem Geheimnis vorknöpfen.
    Inzwischen dämmerte mir, dass anscheinend jeder etwas zu verbergen hatte. Im Lauf von dreiundsechzig Tagen war ich dem Geheimnis, das ich aufspüren wollte, keinen Schritt näher gekommen.
    Ich holte das Fahrrad aus dem Versteck, stopfte mir die Handschuhe in die Tasche und fuhr auf die Straße hinaus. Es war schon spät, doch im August war die Abendluft noch warm. Bald würde die Schule wieder beginnen, und ich wurde allmählich nervös. Wo war Niemand? Warum hatte sie noch nichts unternommen? Es ist leicht, einen Killer ausfindig zu machen. Abgesehen von den physischen Spuren, die er hinterlässt – Fingerabdrücken, Fußabdrücken und DNA  –, gibt es eine Unzahl von psychologischen Hinweisen.
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