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Wells, ich will dich nicht töten

Wells, ich will dich nicht töten

Titel: Wells, ich will dich nicht töten
Autoren: Dan Wells
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auch wenn Niemand sie im Griff hielt? War es falsch, ein Mädchen zu opfern, vielleicht sogar fünf oder zehn, um Millionen zu retten?
    Ich sehe das so, weil ich eine Entscheidung getroffen habe, dachte ich. Die Mädchen, die Niemand getötet hatte, konnten keine Entscheidung treffen. Auch Brooke hatte diese Möglichkeit nicht gehabt und würde sie nie bekommen. Brooke hatte davon gesprochen, Menschen zu retten und nicht zu töten; sie hatte gesagt, die Welt brauche mehr Menschen, die einander halfen. Aber wenn ich nun einen Menschen töten musste, um vielen anderen zu helfen?
    Brooke durfte nicht wählen, doch welche Entscheidung hätte sie getroffen, wenn sie gefragt worden wäre? Sie wollte gewiss keine Mörderin sein. Ebenso wenig wollte sie bei lebendigem Leib verbrannt werden. Ich presste die Hände auf die Augen, bis es wehtat. Ich dachte an Marci, die jetzt kalt und tot irgendwo lag. Ich dachte an Brooke, im eigenen Körper gefangen und von einer Dämonin gesteuert wie eine Marionette. In ein paar Wochen würde auch sie sterben. Ich dachte an Forman und Crowley, die vor meinen Augen gestorben waren, an die Opfer und deren Familien, an Max’ leblose Augen, in denen sich die toten Bilder des Fernsehers gespiegelt hatten. Ich dachte an meinen Dad, der mehr als die Hälfte meines Lebens nicht bei mir gewesen war, lebendig und doch nicht greifbar.
    Warum verlassen Menschen einander?
    Ich hatte ein Jahr damit verbracht, Serienkiller zu jagen, mich in sie hineinzuversetzen und herauszufinden, wie sie dachten. Fast ein Jahr lang hatte ich jede nur denkbare Frage durchdacht, auch wenn sie noch so gruselig oder erschreckend war, und alles hatte mich nicht stärker berührt als ein schwacher Luftzug. Diese Frage aber war fast zu schlimm, als dass ich sie überhaupt erwägen durfte.
    Warum verlassen Menschen einander?
    Die Selbstmorde hatten mir so zugesetzt, weil sie aus freien Stücken begangen worden waren. Jedenfalls hatten alle das angenommen. Nachdem sich nun herausgestellt hatte, dass die Mädchen ermordet worden und nicht freiwillig gestorben waren, konnte ich leichter mit den Todesfällen umgehen. Es war nachvollziehbar, auch wenn es mich beschäftigte, und ich fand einen Platz im Kopf, an dem ich alles richtig einordnen konnte. Auf seltsame Weise hatte es mir sogar Mut gemacht, dass Marci sich gewehrt und um ihr Leben gekämpft hatte. So kam es mir vor, als sei das Leben stärker und lebenswerter. Wenn man es allzu leicht wegwarf, wozu war es dann gut?
    Ich betrachtete das Telefon, das glücklicherweise stumm blieb. Brooke hatte seit fast einer Stunde nicht mehr angerufen. Ich nahm ab, starrte einen Moment lang die Ziffern an und wählte die Null.
    »Wen möchten Sie gern erreichen?«
    »Können Sie mir eine Nummer in New York heraussuchen?« Das letzte Mal hatten wir vor fast einem Jahr etwas von Dad gehört, als er uns Weihnachtsgeschenke geschickt hatte. Auf den Päckchen hatte kein Absender gestanden, doch sie waren in New York City abgestempelt worden.
    »Bitte warten Sie.« Es klickte, dann setzte eine nervtötend muntere Musik ein. Ich hörte nicht hin, sondern betrachtete die Wand, bis sich wieder jemand meldete.
    »Wen würden Sie gern erreichen?«
    »Einen Anschluss in New York, bitte.«
    »New York City?«
    »Ja.«
    »Wie lautet der Name?«
    »Sam Cleaver«, sagte ich. »Möglicherweise auch Samuel.«
    Es gab eine Pause. »Leider finde ich keinen Teilnehmer dieses Namens.«
    »Gibt es überhaupt keine Eintragung?«
    »Nein, Sir.«
    »Gibt es in ganz New York keinen einzigen Sam Cleaver? Dort leben doch acht Millionen Menschen.«
    »Dieser Name ist nicht eingetragen, Sir.«
    Schweigen.
    »Möchten Sie es mit einem anderen Namen versuchen, Sir?«
    »Wie wäre es mit S. Cleaver?«
    »Ich habe hier noch eine Sharon, das ist alles. Hat der Teilnehmer vielleicht einen Mittelnamen, unter dem er geführt wird?«
    »Nein.« Ich starrte die Wand an. »Danke.«
    »Danke, dass Sie die Information …«
    Ich legte auf und stellte das Telefon neben mir aufs Bett. Dann blickte ich in die Runde, betrachtete die Wände, die Fenster und die Türen, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Schließlich fiel mein Blick wieder auf das Telefon. Ich nahm es und warf es gegen die Schranktür, wo es abprallte und auf den Boden fiel. Ich sprang auf, packte es und drosch es immer wieder gegen die Tür, bis das Holz splitterte und nachgab. Die Splitter stachen mir in die Hand, trotzdem schlug ich noch einmal zu, ehe ich das Telefon
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