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Weller

Weller

Titel: Weller
Autoren: Birgit
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schnell das, was so viele Paare oftmals lange Zeit vor sich selbst und anderen verleugnen: Unsere Ehe war seit Jahren nur noch ein sicherer Hort für unseren Nachwuchs gewesen, ohne Lars hatten wir uns kaum noch etwas zu sagen, uns war der gemeinsame Gesprächsstoff ausgegangen. Wir zogen die Reißleine und trennten uns relativ vernünftig – nicht ohne Schmerzen, aber ohne große Szenen. Ich erhielt die Chance, hier in Wismar die Bewährungshilfe mit aufzubauen und verabschiedete mich von meiner Heimat, dem Ruhrpott. Mit Mitte vierzig noch einmal fast komplett neu anzufangen, erschien mir damals als großes Abenteuer, beflügelte und ängstigte mich zugleich. Die ostdeutsche Mentalität, der ich hier begegnete, das latent misstrauische, sehr langsam auftauende Temperament der Mecklenburger irritierte mich und ich kam zunächst mit der wortkargen Art der Leute hier nur schwer klar. Dann traf ich während einer Ausstellungseröffnung im Wismarer Baumhaus eine Frau, die so gar nichts typisch Mecklenburgisches an sich hatte, obwohl sie doch vor etwas mehr als vier Jahrzehnten in Wismar geboren und ihr Leben bis auf ihre Studentenzeit in Berlin fast ausschließlich hier verbracht hatte, und die mich sofort mit ihrer offenen, selbstironischen Art bezauberte.
    Am Alten Hafen war, wie stets an den Sommerwochenenden, die Hölle los. Scharen von Touristen flanierten entlang des Kais, umlagerten die Ausflugsschiffe, bestaunten die historische Kogge und drängelten vor den vertäuten Kuttern, von denen aus Fischbrötchen und Räucherfisch verkauft wurden. Alle Tische vor dem italienischen Restaurant an der Wasserstraße waren besetzt und über dem Hafenbecken lag ein leichter Geruch von Friteusenfett, Dieselabgasen und Sonnencreme. Wir steuerten unsere Räder bis zum Baumhaus, einem mehr als 200 Jahre alten Gebäude, in dem einst die Bohmschlüter untergebracht gewesen waren, die den Hafen nachts mit einem Schlagbaum vor drohenden Gefahren verschlossen. Seit Jahren diente das Baumhaus als Kunststätte mit monatlich wechselnden Ausstellungen.
    Wir stiegen ab, ich gab im Vorbeigehen einer der beiden riesigen Schwedenkopffiguren vor dem Eingang ihren rituellen Klaps, in Erinnerung an meine erste Begegnung mit Ellen, und dann ketteten wir unsere Fahrräder aneinander. Mit zusammengekniffenen Augen konnte ich dabei bereits erkennen, dass sich auf dem Plateau mit den drei Boulebahnen neben dem Baumhaus die üblichen Verdächtigen eingefunden hatten.
    Nur Wolfgang Zorn fehlte. In meine ansonsten unbeschwerte und entspannte Beschäftigung mit den Kugeln und meinen Mitspielern mischte sich an diesem Nachmittag immer wieder die Sorge um ihn.
    ***
    Am Montag zog es mich am späten Nachmittag wie magnetisch zur   Alten Mensa , denn ich befürchtete, Zorn könne sich doch noch mit den Demonstranten vor seinem Haus anlegen und handgreiflich werden. Ich hoffte inständig, meine Anwesenheit würde ihn davon abhalten, seine Freiheit aufs Spiel zu setzen.
    TODESSTRAFE FÜR KINDERSCHÄNDER!
    Das große, rot-weiße Transparent sprang mich förmlich an. Die Demonstranten hatten aufgerüstet. Neben dem Eingang zum   Mensakeller   stand ein Tapeziertisch, darauf Broschüren, Aufkleber, Buttons. Alles in rot-weiß – den Farben der rechtsextremen Partei, welche – seitdem genügend Schwachsinnige, Verleitete und Protestwähler ihr den Zugang zu einer Handvoll Sitzen im Schweriner Landtag ermöglicht hatten – keine Chance ungenutzt ließ, sich als Anwalt des   kleinen Mannes   und Hüter des völkischen Erbes inklusive der Volksgesundheit darzustellen. Mit wurde fast körperlich übel, als ich sah, dass ein Team vom lokalen Fernsehsender Kamera und Mikrofon auf den aufgeblähten Fischerhemdträger gerichtet hielt, der schon damals, bei meiner ersten Konfrontation mit den Demonstranten, das große Wort geschwungen hatte. Wie konnten die Journalisten dieser Kanaille auch noch ein Forum bieten! Ich blickte zu Zorns Fenstern hinauf. Die Gardinen waren geschlossen, nichts rührte sich. In der Menschenmenge entdeckte ich die aufgeregte junge Mutter und einige andere vom letzten Mal. Die Fernsehleute richteten ihre Aufmerksamkeit auf einen älteren Mann im Lodenmantel, der von Grüppchen zu Grüppchen stolzierte, Schultern tätschelte, ernst nickte und mit zackigen Bewegungen gestikulierte. In ihm erkannte ich den Einpeitscher der hiesigen Neonaziszene, der als Parteivorsitzender noch jede Landtagssitzung, an der er seit einigen Jahren als legitim
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