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Weller

Weller

Titel: Weller
Autoren: Birgit
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letzten Monaten herausgefunden. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es sich lebte, mit einem unberechenbaren Mob vor der Haustür, unter Nachbarn, die nichts mit einem zu tun haben wollen, ohne Freunde, mit nur wenigen Zufallsbekanntschaften. Zorns Familie hatte seit seiner letzten Verurteilung den Kontakt zu ihm abgebrochen. Er war völlig vereinsamt; die Suchtberaterin und ich waren die einzigen verlässlichen Kontakte, die er besaß. Und jetzt diese Demonstrationen, bei denen völlig unklar war, wann der Punkt überschritten sein würde, an welchem die Verwünschungen der Demonstranten in gewalttätige Lynchjustiz ausuferten. Ich spürte Zorns Ohnmacht und Verzweiflung beinahe körperlich.
    »Tue nichts Unüberlegtes, Wolfgang. Halte den Ball flach, weiche denen dort unten am besten aus, so weit es geht. Da sind einige Figuren dabei, die nur darauf warten, dich mit Ganzkörpereinsatz vom Fortziehen zu überzeugen, sobald du ihnen Gelegenheit dazu gibst.«
    Wir standen noch eine Weile in seiner Küche, pusteten in unsere Becher und wussten beide wohl nicht recht weiter. Als die Dämmerung einsetzte, verstreute sich die Meute vor dem Haus in alle Richtungen. Zurück im Auto, rief ich Dietmar Holter an.
    »Sag mal, ist das eigentlich gestattet, dass sich diese Leute regelmäßig zu der Demo vor Zorns Haus treffen?«
    »Dir auch einen schönen guten Abend, lieber Uwe.« Holter kicherte, wurde jedoch sofort wieder ernst. »Du wirst es nicht glauben, aber die haben das seit einer Woche tatsächlich ganz offiziell als Demonstration angemeldet. Unser Chef meint, wir sollten da nicht unbedingt auch noch auftauchen – zumal mit Gegendemonstranten wohl eher nicht zu rechnen ist. Wir kochen die Sache auf kleiner Flamme.«
    Ich kochte auch, aber auf deutlich größerer Flamme. Am nächsten Morgen führte ich mehrere Telefonate mit den Beamten der Kriminalpolizei in Schwerin und Vertretern der örtlichen Presselandschaft. Alle signalisierten Verständnis. Alle hatten aber einen mehr oder weniger öffentlichen Auftrag, der sie das tun ließ, was sie taten. Keiner sah sich in der Lage oder berufen, meinen Klienten in seiner Lage zu unterstützen oder auf die öffentliche Meinung zu seinen Gunsten Einfluss zu nehmen. Und keiner der Polizisten gab zu, den Anwohnern oder der Presse gegenüber Informationen über Wolfgang Zorn verbreitet zu haben. »Die müssen sich das zusammengereimt haben«, war der einhellige Tenor. Ich knirschte mit den Zähnen und widmete mich zunächst meinen anderen Klienten.
    ***
    »Herr Lubinski, welch außerordentliche Freude.« Ich hielt meinem   Stammkunden   mit ironischem Grinsen die Bürotür auf. Er schlurfte, nach einem schlaffen Händedruck, mit abgewandtem Blick an mir vorbei, wobei er eine Dunstwolke aus altem Tabakqualm, Hochprozentigem und ungewaschenen Klamotten hinter sich herzog. Unaufgefordert brachte er seine achtzig Kilo schweren Einmeterfünfundsechzig in einem meiner Besucherstühle unter. Karl-Heinz Lubinski, genannt Kalle, gehörte zu den Unbelehrbaren im Kreis meiner Klienten. Inzwischen 57 Jahre alt, hatte er knapp die Hälfte seines Lebens hinter Gittern verbracht. Schon zu DDR-Zeiten hatte er es mit dem Mein und Dein nicht so streng genommen und sein Einkommen als Erntehelfer durch fortgesetzte Diebstähle aufgebessert. Irgendwie war das Konzept vom Anerkennen der Eigentumsrechte anderer nie in sein Bewusstsein gedrungen und er hatte auch die Idee des Volkseigentums extrem zu seinen Gunsten ausgelegt. Nach dem Ende der DDR war er schnell in die unrühmliche Karriere eines Dauerarbeitslosen gerutscht – ohne Chance auf Vermittlung in eine, sei sie noch so anspruchslose Arbeitsstelle. Denn zu seinen Vorstrafen gesellte sich ein chronisches Alkoholproblem, das ihn körperlich schwächte und so gut wie arbeitsunfähig machte. Er war kein klassischer Kleptomane, in dieser Hinsicht also auch nicht therapierbar, und von einer Suchttherapie wollte er nichts wissen; so blieb mir als seinem Bewährungshelfer nur, ihm in den Phasen, in denen er auf freiem Fuß war und durch seine kleine Welt aus Suff und Hartz IV trudelte, ein wenig Halt und Unterstützung anzubieten. Wäre Kalle Lubinski zu so etwas wie Lebensplanung imstande gewesen, hätten seine Gefängnisaufenthalte wohl ohnehin als fester Bestandteil dazu gehört. Er lebte stets in dem sicheren Wissen, dass er bald wieder dort landen würde. Die Frage war nur: wann und für wie lange. Insgeheim hegte ich den Verdacht, er fühlte
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