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Welch langen Weg die Toten gehen

Welch langen Weg die Toten gehen

Titel: Welch langen Weg die Toten gehen
Autoren: Reginald Hill
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nahm.
    Er öffnete eine Schublade und nahm ein Buch heraus, das er auf den Schreibtisch legte, dazu einen A4-Umschlag und einen Füllfederhalter. Dem Umschlag entnahm er mehrere Blätter schweren Briefpapiers. Er hielt ein Blatt über die Kerze, bis es Feuer fing, und ließ es in den metallenen Papierkorb neben dem Stuhl fallen. Er entzündete ein zweites Blatt, wiederholte die Prozedur und tat dann das Gleiche mit allen anderen. Züngelnde Flammen schlugen über den Rand des Papierkorbs, leckten die Dunkelheit aus den düsteren Ecken des Arbeitszimmers, bevor sie in sich zusammenfielen und erloschen. Die Schallplatte spielte noch. Er lauschte und erkannte das vierte Stück aus den
Kinderszenen
. Nicht ohne Mühe vergegenwärtigte er sich dessen Titel. »Bittendes Kind.«
    Er schüttelte den Papierkorb, um sicherzugehen, dass alle Blätter verbrannt waren, und rührte mit einem Ebenholzlineal die Asche auf, zerkleinerte sie zu feinem Puder, der in der restlichen Hitze teilweise nach oben stieg und in der Luft schwebte.
    Nun erhob er sich und ging zur linken Wand, wo neben einem der Bücherschränke ein mit einer Glasfront versehener, metallgerahmter Waffenschrank an die Eichenvertäfelung geschraubt war. Er war leer, der Boden mit einer weichen Staubhülle bedeckt, die er, während er vorsichtig die Schranktür öffnete, unter keinen Umständen aufwirbeln wollte. Er griff hinein, umfasste eine Gewehrhalterung, drehte sie gegen den Uhrzeigersinn um neunzig Grad und zog ruckartig an. Ein Teil des Paneels löste sich und gab den Blick auf eine Nische frei, die in Größe und Funktion dem Waffenschrank glich. Dort drin stand ein Gewehr, das, anders als die meisten anderen Gegenstände in dem Raum, keinerlei Spuren von Vernachlässigung aufwies. Es schimmerte in seiner drohenden Schönheit. Daneben, auf einem ledergebundenen Tagebuch, in dem die Jahreszahl 1992 eingeprägt war, lag eine Patronenschachtel.
    Er nahm das Gewehr und die Patronen und kehrte an den Schreibtisch zurück. Die Musik war beim siebten Stück angekommen: »Träumerei«. Er setzte sich, hatte die Waffe auf dem Schoß, öffnete und lud sie. Aus seiner Tasche nahm er eine etwa dreißig Zentimeter lange Schnur mit jeweils einer Schlinge am Ende. Er führte die Schlinge über den Abzugshebel und lehnte die Waffe gegen den Schreibtisch.
    Er sah auf seine Uhr. Wartete weitere dreißig Sekunden. Nahm den Füllfederhalter zur Hand. Schrieb in dicken Lettern FÜR SUE - LYNN auf den Umschlag. Legte den Füllfederhalter auf den Schreibtisch. Sah wieder auf seine Uhr. Erhob sich und ging zurück zum Waffenschrank.
    Bis zu diesem Punkt hatte er alles mit ruhiger Zweckdienlichkeit ausgeführt. Nun schien sich eine gewisse Dringlichkeit einzustellen.
    Er streifte die Handschuhe ab und warf sie in die Geheimnische, gefolgt von seinem Feuerzeug, dem Streichholzblättchen, dem Kassettenrecorder, dem Flachmann und dem Arzneifläschchen.
    Als Nächstes verschloss er das Holzpaneel, drehte die Gewehrhalterung zurück, schloss die Schranktür und ging zum Schreibtischstuhl zurück, auf den er mit einer Endgültigkeit niedersackte, die nahelegte, dass er sich nicht wieder zu erheben gedachte. Er lauschte wieder der Musik. Das elfte Stück ging gerade zu Ende. »Fürchtenmachen.« Dann setzte das zwölfte Stück ein. »Kind im Einschlummern.«
    Er hörte es bis zum Ende und fragte sich, wohin sie entschwunden waren, diese dreißig Jahre.
    Als die Musik vertönte, zog er das Buch auf dem Schreibtisch zu sich heran.
    Das letzte Stück begann. »Der Dichter spricht.«
    Er schlug das Buch auf. Er musste nicht nach der Stelle suchen. Die Seite fiel wie von allein auf, was darauf schließen ließ, dass sie häufig aufgeschlagen worden war.
    Und jetzt sah der Beobachter, wie dieser andere Teil seines Selbst, dieses körperlose Gefühlswirrsal, wieder in die leibliche Hülle zurückschwebte, aus der er zeitweilig verbannt worden war. Auch dieser Teil hatte, wie der Tatmensch, etwas Ruhiges an sich, aber es war die Ruhe der Verzweiflung, das Wissen, dass das Ende nah war, ein Vorgang, der vollkommen von den Worten erfasst wurde, auf die die Augen starrten, ohne sie überhaupt erkennen zu müssen.
    Er prüfte – schwankte –
    Warf die Schlinge
    Ins Aus und ins Vorbei –
    In einen Sinn verstrickt, als sei
    Erblindet sein Verstand –
    Der Gefühlsmensch, das sah der Beobachter, stimmte uneingeschränkt für den Tod, er war so vollkommen abgeschnitten von jeglicher Hoffnung und
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