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Welch langen Weg die Toten gehen

Welch langen Weg die Toten gehen

Titel: Welch langen Weg die Toten gehen
Autoren: Reginald Hill
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Oh, das war gut. Als die Tür nicht nachgab, verharrte sie kurz reglos, bevor sie sich wie ein Detektiv aus einem Comic vorbeugte, um durchs Schlüsselloch zu spähen. Mit der linken Hand stützte sie sich am mittleren Eichenpaneel ab, wie er im essighellen Kerzenlicht sah.
    Das war noch besser! Gott war heute wirklich in Spendierlaune.
    Plötzlich richtete sie sich auf, und er trat einen Schritt zurück in den Schutz der schwarzen Schatten. Sie war für ihn nun nicht mehr als eine dunkle Silhouette vor der blassen Aureole, die die Kerze auf den unteren Treppenabsatz warf. Aber die Art und Weise, wie sie sich aufgerichtet hatte, genügte. Durch solche undramatischen, nichtsdestotrotz emphatischen Gesten – ein Schlenkern der Hand, eine Drehung des Kopfes, ein Straffen der Schultern – hatte sie immer zu verstehen gegeben, dass sie eine Entscheidung getroffen hatte und entsprechend handeln würde.
    Er sah den Schein die Treppe hinunterschweben, flackernd nunmehr, nachdem sie sich eingedenk ihrer Entscheidung rasch und zielstrebig bewegte. Er hörte ihre festen Schritte auf den Kacheln des Flurs, dann draußen auf dem Kies der Einfahrt. Sie ließ die Tür hinter sich geöffnet, so, wie sie sie vorgefunden hatte. Auch das war typisch für sie.
    Er wartete eine halbe Minute, bevor er in den Flur hinunterging. Sie hatte die Kerze ausgeblasen und dort abgestellt, wo sie sie gefunden hatte. Er streifte sich weiße Baumwollhandschuhe über, entzündete von neuem den Stumpen und ließ das Streichholzblättchen in seine Tasche gleiten. Er ging zur Tür des Musikzimmers, zog den Schlüssel ab und legte ihn sorgfältig in ein frisches weißes Taschentuch. Aus der Brusttasche seines Jacketts nahm er einen nahezu gleichen Schlüssel, sperrte die Tür auf und ließ den Schlüssel in dieselbe Tasche gleiten, bevor er in die Küche ging. Dort öffnete er den Sicherungskasten und drückte den Hauptschalter wieder auf »Aus«. Dann entfernte er die Abdeckung der Sicherungen, holte die Haushaltssicherungen aus seiner Jacketttasche, setzte sie ein und stellte den Hauptschalter an.
    Unmittelbar darunter befand sich ein schmales, mit einer Glasfront versehenes Schlüsselschränkchen, in dem jeder Haken ordentlich beschriftet war. Er öffnete es, zog den Schlüssel aus seiner Brusttasche und hängte ihn an den mit
Musikzimmer
gekennzeichneten leeren Haken.
    Der Staub, den sie auf dem Sicherungskasten aufgewirbelt hatte, war teilweise oben auf dem Schlüsselschränkchen gelandet, teilweise auf den Kachelfußboden geschwebt. Er nahm eine Schaufel und einen Handbesen aus dem Schrank unter der Spüle und fegte sorgfältig die Kacheln. Das Schränkchen ignorierte er. Er schüttete den Kehricht in den Ausguss und drehte den Hahn auf, ließ das Wasser laufen, während er einen Hängeschrank öffnete und zwei Whiskygläser aus geschliffenem Glas herausholte. Aus seiner Seitentasche zog er einen silbernen Flachmann und eine kleine Arzneiflasche. Aus Ersterem schenkte er Whisky in beide Gläser, in eines davon erbrach er zwei Kapseln, die er zweiterem entnommen hatte. Die Mischung schüttelte er auf, bevor er sie in einem Zug hinunterkippte. Er trank auch den zweiten Whisky, bevor er beide Gläser leicht mit Wasser ausspülte, die Tropfen abschüttelte und sie umgedreht in den Schrank zurückstellte.
    Nun kehrte er in den Flur zurück und stieg die Treppe hinauf. Er steckte den Schlüssel, den er in sein Taschentuch gewickelt hatte, in das Schloss zum Arbeitszimmer. Er ließ sich mit gutgeölter Leichtigkeit drehen. Die Klinke wischte er mit seinem Handschuh sauber, dann drückte er die Tür auf.
    Einen Augenblick lang stand er nur da und sah hinein, wie ein Archäologe, der soeben in eine Grabkammer eingebrochen war und nun zögerte, dem gegenüberzutreten, für dessen Entdeckung er so viele Mühen auf sich genommen hatte.
    Das Zimmer hatte in der Tat etwas von einer Grabkammer. Die alte Eichentäfelung war zu schiefergrauer Schwärze nachgedunkelt, dicke Vorhänge vor den Fenstern sperrten Licht und frische Luft aus, die beiden massiven Mahagonibücherschränke an den hinteren Wänden und deren alte Folianten verströmten einen feuchten, modrigen Geruch. An der Wand gegenüber der Tür hing das Brustbild eines Mannes in Bergsteigermontur, im Hintergrund war ein Gebirgszug mit drei Bergspitzen zu erkennen. Zur einen Seite des Porträts war ein Seil an der Wand befestigt, an der anderen ein Eispickel. Das ernste und unfreundliche gemalte Antlitz
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