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Weißer Teufel

Weißer Teufel

Titel: Weißer Teufel
Autoren: Justin Evans
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Pride outete. Toleranz für Homosexualität wurde nicht nur offiziell gefordert, sie verankerte sich sogar. Während Andrew also gegen seine Schule rebellierte (weil er – nach Art von Holden Caulfield – glaubte, die Opulenz würde die Studenten irgendwie unter Druck setzen), hatte er diese amerikanische kulturelle Sensitivität verinnerlicht.Wieder zu Hause konnte er (behutsam) einen Freund oder Lehrer zur Rede stellen und über seine Ängste, seine Erfahrungen sprechen. Heute brauchte er sich nur umzusehen, um zu wissen, dass es in seiner gegenwärtigen Umgebung – die angespannten englischen Gesichter, die jahrhundertealten Traditionen, was Kleidung und Bezeichnungen (Churchill-Songs, Churchill-Gebäude; alles wurde nach einem längst verstorbenen ehemaligen Schüler benannt) betraf  – ein solches Feingefühl nicht gab; zumindest nicht für alle sichtbar. Er spürte zu Recht, dass Homosexualität in einer reinen Knabenschule die größte Sünde war. Je leichter es war, Grenzen zu überschreiten, umso größer war das Tabu. Er würde den lebhaften Traum für sich behalten.
    Er hatte ohnehin keine Chance, darüber nachzudenken oder zu reden, weil er verschlafen hatte. Um ein Haar hätte er das Frühstück verpasst und kam zwei Minuten zu spät zum Unterricht – zu den Lessons  – derangiert, ungewaschen und atemlos.
    Das Klassenzimmer war klein und quadratisch. Einzelne Pulte waren wie Schlachtreihen aufgestellt (im Frederick Williams hatte es runde Tische gegeben  – wie egalitär). Im vorderen Bereich befand sich ein Podium (wie hierarchisch). Dort saß ein Lehrer mit übergeschlagenen Beinen still wie eine Statue. Dies war Andrews erste Unterrichtsstunde in Harrow. Für den Lehrer war es die tausendste. Mr. Montague. Silbernes Haar. Das Gesicht mit Altersflecken übersät. Eleganter, aber ländlicher grüner Anzug unter dem schwarzen Talar. Der Mund ironisch verzogen, die ohnehin hohen Augenbrauen hoben sich noch ein wenig mehr bei Andrews verspätetem Auftritt. Ein Platz warnoch unbesetzt. Mr. Montague scherzte mit den anderen Jungs, während sie warteten. Das Geplänkel war durchsetzt mit respektvollen Sirs, und die frisch in die Abschlussklasse versetzten Jungs gaben eifrig Anekdoten zum Besten. Die Atmosphäre war freundlich, das fiel Andrew sofort auf. (Im FW behandelten die Schüler, Sprösslinge von Wallstreeters, die schlecht bezahlten Lehrer mit unterdrückter Verachtung, weil sie wussten, dass die Noten keine Rolle spielten und einem nicht halfen, Millionen zu machen, und dass die Lehrer demzufolge nur wenig besser als Bedienstete behandelt werden mussten.) Schließlich betrat ein strammes Bürschchen mit Pfirsichhaut und zerzausten, noch feuchten Haaren das Klassenzimmer. Guten Morgen, Utey, sagte Mr. Montague betont. Guten Morgen, Sir, erwiderte Utey mit rotem Kopf. Mr. Montague erhob sich und hielt ein Buch von Chaucer hoch.
    »Die A-Levels stehen euch bevor, Kinder. Und dies ist genau die richtige Zeit, zu lernen, mittelenglische Texte zu lesen, richtig auszusprechen und zu kommentieren.« Er grinste wölfisch, als das erwartete Stöhnen ertönte.
    Andrew fühlte sich verloren und war den ganzen Morgen immer einen Tick zu spät dran. Er rannte zum nächsten Programmpunkt. Die Tour der Neulinge. Eine Horde kleiner Jungs mit Hüten trabte zur High Street. Das muss es sein, dachte er, und erst als er näher kam, realisierte er, dass er einer Schar von Shells nachlief. Achtklässler. Andrew schloss sich ihnen an. Sie wurden von einem Harrow-Wahrzeichen zum anderen geführt. Er überragte sogar die größten Jungs und kam sich vor wie der riesige haarige Dummkopf, der fünfmal sitzengeblieben war. Vaz hatte recht – in der Oberstufe gab es keine Neuen.
    Zuletzt kamen sie zu der bedrückend stillen Vaughan-Bibliothek, die eher einem Museum als einer Stätte zum Lernen und Studieren glich. Buntglasfenster und Vitrinen aus Plexiglas, in denen seltene Handschriften ausgestellt waren. Die Bibliothekarin – eine kleine, rundliche Frau in den Sechzigern mit orangefarbener Bobfrisur und der Ausstrahlung einer gestrengen Engländerin  – stellte sich mit dem Namen Dr. Kahn vor und begann mit einem fünfminütigen Vortrag, in dem sie die Jungs darauf hinwies, dass es in der Vaughan-Bibliothek verboten war zu essen, ehe sie ihre vorbereiteten Bemerkungen über die Schulgeschichte vom Stapel ließ. Andrew klinkte sich aus. Die kleinen Jungs wurden zappelig vor Langeweile. Wenigstens, bis das
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