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Weißer Teufel

Weißer Teufel

Titel: Weißer Teufel
Autoren: Justin Evans
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Zwischenjahr
    Andrew Taylor stand allein vor einem Tor. Das Motorengeräusch des davonfahrenden Taxis war längst verklungen. Die Bewölkung am Himmel wechselte, angetrieben von heftigen Winden, unnatürlich schnell: Wolken, Sonne, Dunst. Das war also das englische Wetter. Die Luft war feucht, und beißender Rauch (Gärtner verbrannten Farnkraut) stieg ihm in die Nase. Irgendwo in der Nähe schlug eine Kirchenglocke. Er stand auf einem Hügel in einem der lebendigen Randbezirke ein paar Meilen nordwestlich von London. Das Taxi hatte ihn auf der High Street abgesetzt, einer gewundenen, mit weiß getünchten Läden und dreistöckigen Stadthäusern gesäumten Straße. Müde aussehende Bäume standen in aus dem Asphalt gefrästen Löchern. Nach Norden hin erstreckten sich weitere Hügel, und jeder war mit einer Kette aus identischen Häusern gezeichnet: braune Ziegel, Kamin, ummauerter Garten. Doch dann sah er das Tor und das auffallende Gebäude, das sein neues Zuhause werden sollte; er dachte, er wäre am falschen Ort gelandet. Dies sollte eine Schule für Englands Elite sein. Zumindest hatte ihm das sein Vater gesagt. Du weißt gar nicht, wie viel Glück du hast, hatte er des Öfteren wiederholt. Doch Andrew hatte schon vorher Eliteschulen besucht. Und seiner Erfahrung nach gab es dort einen weitläufigen Campus mit Golfplatz, großer Turnhalle und blitzender Mensa  … keine Gebäude, die an einer Straße aufgereiht waren. Trotzdem stand er hier. High Street 25, Harrow-on-the-Hill. Middlesex.Das war die Adresse, die auf dem Willkommenspaket, auf der Broschüre und dem Brief von seinem künftigen Hausvater angegeben war. Und er kam sich vor wie in einer verdammten Zeitschleife.
    Erst war da der Name. The Lot . Das begründete den Bammel vor englischer Exzentrik. Andrew entwickelte bereits eine Allergie dagegen. In der Frederick Williams Academy in Connecticut trugen die Wohnhäuser die Namen der Spender. Andrew hatte zwei Jahre im Davidson, zwei im Griswold und in seinem Senior-Jahr –  das bei weitem dekadenteste  – im Noel House im Geruch nach Marihuana und ungewaschenen Klamotten gewohnt. Jetzt jedoch stand er vor dem Lot, einem vierstöckigen viktorianischen Herrenhaus mit altmodischem Kreuzgiebeldach. Es war aus roten Ziegelsteinen erbaut – mit dreieckigen Nischen und Erkern, die wie Pfeile aufragten. Über der Tür und an verschiedenen anderen Stellen – wo immer eine etwas größere Ziegelfläche frei war  – befanden sich in Stein gehauene Szenen aus der Landwirtschaft: Heu und Sensen. Sonnenschein und Pflüge. Moos, Ruß und alter Schmutz wetteiferten mit den dünnen Mörtelfugen um ihre Daseinsberechtigung. Eine niedrige Mauer, ebenfalls aus roten Ziegeln, umgab das Grundstück. Zwischen Haus und Mauer befand sich eine mit beigefarbenem Kies bedeckte Einfahrt. Das erinnerte ihn an einen Burggraben. Ein Tor war zwischen zwei mit schmiedeeisernen Laternen gekrönten Pfeilern in die Mauer eingelassen. Andrew wurde das Herz schwer. Dieses Haus war feucht, beengt und alt. Das Jahr, das ihm hier bevorstand, erschien ihm mit einem Mal unendlich lang.
    Ich möchte kein Wort der Klage von dir hören. Ich habe Berge versetzt, um dich dort unterzubringen.
    Ungebeten drang die Stimme des Vaters in Andrews Kopf – wie so oft. Energisch, mit südlichem Akzent, vorwurfsvoll. In jüngeren Jahren hatte Andrew sie oft in der Dusche wahrgenommen, als würde sie von den Tropfen aufsteigen, die auf der Wanne auftrafen. Dann drehte er die Dusche ab, lief triefnass zur Badezimmertür und rief: Ja? Ja, Daddy?, obwohl nichts gewesen war. Nur das schlechte Gewissen; die innere Uhr, die ihm sagte, dass es schon Stunden her war, seit die harsche Stimme tatsächlich ertönt war. Im vergangenen Sommer hatte Andrew diese Stimme oft zu hören bekommen.
    Deswegen habe ich Großvaters letzte Anteile verkauft. Bei dieser Marktlage hab ich nur einen Appel und ein Ei dafür bekommen, aber ich habe die Aktien verschachert, um deinen jämmerlichen Hintern aus der Klemme zu befreien. Was für eine Verschwendung, hatte sein Vater gewettert. Was für eine Enttäuschung für uns alle. Für mich, stöhnte er . Ich hätte nie gedacht, dass ich so was mal erleben muss. Niemals.
    Das war die Ansprache, die alle Beschwerden über die neue Schule im Keim ersticken sollte. Harrow School. Die Abbildungen in der Broschüre erinnerten an eine Miniserie auf PBS. Sauber geschrubbte britische Schuljungs mit Jacketts, Krawatten und
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