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Weisser Schrecken

Weisser Schrecken

Titel: Weisser Schrecken
Autoren: Thomas Finn
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Hintergrund von Säuglingsgeschrei untermalt wurde.
    »Allerdings.«
    »Mike, du sprachst davon, dass Herr Meyenberg Kinderarzt ist«, legte die Hörerin los. »Mich würde mal interessieren, wo er selbst schon überall war und was er da so genau tut.«
    Der Moderator nickte Andreas auffordernd zu. Andreas beugte sich vor.
    »2009 war ich mit einem Nothilfe-Team in Papua-Neuginea, wo ich geholfen habe, die Cholera zu bekämpfen, die dort zum ersten Mal seit 50 Jahren wieder ausgebrochen ist. Und dieses Jahr war ich fast die ganze Zeit über auf Haiti, wo nach dem Erdbeben im Januar noch immer Hunderttausende in Hütten aus Plastikplanen, in behelfsmäßigen Zelten oder Ruinen leben müssen.«
    »Und da kümmern Sie sich nur um Kinder?«
    »Das wäre schön.« Andreas lächelte unwillkürlich und spürte, wie die Anspannung zunehmend von ihm abfiel. Inzwischen war er ganz in seinem Element. »Leider lässt sich das mit der Realität vor Ort nicht vereinbaren. Ich gehöre zu einem Team von Ärzten, das vorwiegend den vielen Durchfallerkrankungen und Atemweginfektionen zu Leibe rückt. Zu unseren Patienten zählen Kinder ebenso wie Erwachsene.«
    »Haben Sie denn selbst Kinder?«
    »Nein.« Andreas zögerte. »Aber ich … fühle mich Kindern irgendwie verpflichtet. Jeder von uns sollte das.«
    »Das finde ich toll. Also ich werde etwas spenden.«
    »Dankeschön. Ich verspreche, jeder einzelne Euro ist gut investiert.«
    Mad Mike schenkte Andreas einen ›Na-geht-doch‹-Blick und griff selbst wieder zum Mikro. »Weihnachtszeit, Geschenkezeit. Vielleicht haben wir ja doch nicht vergessen, was Nächstenliebe bedeutet. Bevor es gleich was von Silbermond auf die Ohren gibt, noch ein weiterer Anrufer. Aber natürlich wird euch Andreas auch nach dem Song noch Rede und Antwort stehen.« Der Moderator sah abermals zur Regiekabine auf, wo der Techniker eine Tafel mit der Aufschrift ›Niklas‹ in die Höhe hielt. »Niklas, auch du hast eine Frage an Andreas?« In der Leitung knackste es. »Niklas?«
    »Ja, ich bin dran«, ertönte eine heisere Stimme, die Andreas seltsam bekannt vorkam. »Mich würde interessieren, warum sich Andreas im Ausland herumtreibt, wenn er hier doch viel dringender gebraucht wird?«
    »Wie bitte?« Andreas sah alarmiert zu der Namenstafel auf und wurde bleich.
    »Sag schon, Andy«, tönte es in den Kopfhörern. »Feierst du mit den Kindern in aller Welt auch hübsch Nikolaus?«
    »Ja, äh, nein. Das kommt drauf an.« Hektisch formulierte Andreas mit den Lippen ›Privat‹. Der hagere Moderator reagierte sofort und drückte einen weiteren seiner vielen Knöpfe. Schon fuhr er im routinierten Plauderton fort. »Womit wir auch wieder beim Thema wären. Nikolaus naht, und noch immer wissen viele von uns nicht, was sie ihren Lieben schenken sollen …«
    Andreas beachtete sein Gegenüber nicht weiter. Er war längst aufgesprungen und lauschte ungläubig der Stimme, die noch immer die Kopfhörer erfüllte. Wütend hob er das Mikro. »Verflucht, ich fasse es nicht. Du?! Was soll das? Du kannst mich doch nicht mitten in einer Radiosendung …«
    »Daran bist du selbst schuld. Hättest uns ja deine Handynummer geben können.«
    »Ich … hätte mich schon noch irgendwann bei euch gemeldet.«
    »Na klar, Andy. Wer’s glaubt, wird selig.« Der Anrufer schnaubte abfällig. »Es ist wieder so weit. Morgen ist der sechste Dezember.«
    »Nikolaus«, flüsterte Andreas tonlos. »Aber es ist doch all die Jahre über nichts passiert.«
    »Sag mal, wem willst du denn da was vormachen!«, schlug es ihm erbost entgegen. »Dir selbst? Natürlich ist all die Jahre über nichts passiert. Doch jetzt ist die Zeit um! Das Schicksal hat uns eingeholt. Es hält uns fest im Griff. Dich. Mich. Uns alle. Glaubst du ernsthaft, es sei Zufall, dass du ausgerechnet im Dezember wieder zurück in Deutschland bist? Pünktlich in diesem Jahr? In diesem Monat?« Der Anrufer hielt kurz inne. »Nein, mein Freund. Das alles ist unsere Bestimmung! Und du weißt das.« Andreas schwindelte, und seine Stimme klang belegt. »Was ist mit den anderen?«
    »Wir warten auf dich. Du weißt ja, wo.« Es klickte, und die Leitung war tot.
    Andreas ließ das Mikro wie betäubt sinken.
    Ja, er wusste wo.



Freunde
    Andreas erwachte viel zu früh. Nur dass ihn heute nicht das Lärmen der Maschinen draußen im Sägewerk seines Vaters geweckt hatte, sondern lautes Glockengeläut im Ort. Ohne sich zu dem neuen Radiowecker umzudrehen, wusste er, dass es Viertel
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