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Weisser Schrecken

Weisser Schrecken

Titel: Weisser Schrecken
Autoren: Thomas Finn
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hören, wie auf der Zufahrt zum Sender Schnee geschippt wird. Was soll’s, dafür habe ich euch eben mit einem Song von 1984 geweckt, von dem man mit Fug und Recht behaupten kann, dass er zu dieser Jahreszeit Tradition ist: ›Last christmas‹ von Wham!
    Ich weiß, ich weiß, niemand von uns kann ihn mehr hören. Und ich verspreche euch, dass ich die Platte in diesem Jahr garantiert zum letzten Mal aufgelegt habe. Doch es ist eben Dezember, da gehört der Song dazu wie der berühmte Familienstreit unterm Weihnachtsbaum, ha ha. Aber … vielleicht tröstet es euch zu erfahren, dass es George Michael nicht anders ergeht. Angeblich ergreift auch er regelmäßig die Flucht, sobald die alte Schmonzette erklingt. Nur, dass er und Andrew Ridgley sich diese Qual jedes Jahr mit geschätzten zehn Millionen Euro an Tantiemen versüßen lassen. Ein schönes Weihnachtsgeschenk, will ich meinen. Apropos Weihnachtsgeschenk – ho ho ho – erst einmal steht Nikolaus vor der Tür! Wetten, dass manche von euch noch immer keinen blassen Schimmer haben, was sie ihrer Liebsten in den Stöckelschuh schieben sollen? Dem kann abgeholfen werden. Denn heute tritt Mad Mike den einsamen Kampf gegen den vorweihnachtlichen Konsumterror an und hat einen Gast im Studio, der euch einen sinnvollen Ausweg aus der Krise weist. Also, bleibt dran.«
    Andreas sah schmunzelnd dabei zu, wie Mad Mike auf einen der vielen Knöpfe vor sich auf dem Regiepult drückte und einen Werbejingle einblendete. Anschließend nahm sich der hagere Moderator die Kopfhörer ab und zwinkerte ihm zu. »So, das hätten wir. Wenn Sie auch einen Kaffee möchten, bedienen Sie sich bitte.« Mad Mike deutete auf die Kanne auf einem Beistelltisch. Er selbst hatte längst eine dampfende Tasse vor sich stehen, auf der in roten Buchstaben »Achtung, bissiger Moderator« stand.
    »Danke, aber ich bin bestens bedient.« Andreas, der Mad Mike direkt gegenüber saß, hob das Glas Wasser, das ihm eine hübsche Praktikantin des Senders auf das Pult gestellt hatte. »Ich hatte beim Aufstehen schon Kaffee. Wenn ich noch mehr trinke, dann können Sie mich bald mit ’nem Herzkasper raustragen.«
    Mad Mike lachte, nahm seinerseits einen Schluck und behielt dabei streng die Uhr über der Studiotür im Auge, auf der einem Countdown gleich die Zeit ablief. Noch zwei Minuten. »An das frühe Aufstehen gewöhnt man sich mit der Zeit. Aber das wird bei Ihnen doch nicht viel anders sein, oder?« Im Hintergrund war leise die Werbung für ein Autohaus zu hören.
    »Es ist eher der Jetlag, der mir noch zusetzt.« Andreas strich sich das dunkle Haar aus der Stirn und atmete tief die trockene Studioluft ein. Sie roch nach dem würzigen Duft eines Weihnachtsgestecks, das Mad Mike von einer Hörerin geschenkt bekommen hatte. Langsam machte sich in ihm nun doch eine gewisse Aufregung bemerkbar, immerhin wurde er nicht jeden Tag interviewt. »Ich bin kurzfristig für einen Kollegen eingesprungen, der eigentlich an meiner Statt zurück nach Deutschland fliegen sollte, um Medikamente aus dem Zoll zu holen. Aber Sie haben schon recht. Zuletzt mussten wir jeden Morgen um fünf Uhr auf der Matte stehen.«
    »Ja, ich muss schon sagen, bewundernswert.« Mad Mike hob seinen Stichwortzettel und überflog ihn kurz. »Ich lese hier, dass Sie ihr Medizinstudium in Rekordzeit erledigt haben. Neun Semester. Alle Achtung. Meine Schwester ist ebenfalls Ärztin, nur dass sie fast acht Jahre benötigt hat, bis sie fertig war. Sie arbeitet heute in München.«
    »Tja, nur dass mir die Plackerei im Nachhinein dann doch nicht so viel gebracht hat.« Andreas seufzte. »Die ärztliche Approbationsordnung sieht dreizehn Semester Studienzeit vor und besteht auch auf die Einhaltung dieser Regelung. Eigentlich hätte ich damals zwei Jahre bis zum PJ warten müssen. Aber ich hatte einen Prof, der mir wohlgesonnen war. Der hat da nach einem Jahr was drehen können.«
    »Anschließend zwei Jahre Erfahrung als Kinderarzt am Klinikum in Augsburg und dann Ihr Einsatz bei Ärzte ohne Grenzen.« Mad Mike sah ein weiteres Mal zur Studiouhr auf und blickte dann wieder seinem Gast in die Augen. »Man hat fast den Eindruck, als hätten Sie es kaum abwarten können, Deutschland den Rücken zu kehren.« Er lachte, doch Andreas verzichtete auf eine Antwort. »Na gut«, fuhr der Moderator fort. »Wenn der Spendenaufruf Erfolg haben soll, müssen wir unsere Hörer emotional packen. Vielleicht beginnen wir bei Ihrer Kindheit? Ich lese da, Sie stammen
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