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Weisser Schrecken

Weisser Schrecken

Titel: Weisser Schrecken
Autoren: Thomas Finn
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vor zehn am Morgen war. Sein Vater hatte ihm den Wecker erst vor einem Monat anlässlich seines 15. Geburtstags geschenkt. Das Gerät war nur eines von vielen Geschenken gewesen …
    Andreas stöhnte. Sonntag war immerhin der einzige Tag in der Woche, an dem man ausschlafen konnte. Theoretisch jedenfalls. Doch der Gottesdienst in Perchtals alter Kirche begann in einer Viertelstunde. Das Vorläuten diente sicher dazu, all jenen ein schlechtes Gewissen zu machen, die bislang standhaft zu Hause geblieben waren.
    ›A11 jene‹, das war der kleine Haufen ›schwarzer Schafe‹, wie Pfarrer Strobel gern die bezeichnete, die den Sonntagvormittag lieber im Bett verbrachten, anstatt seiner Predigt zu lauschen. Andreas gehörte dazu. Dabei war seine Mutter eine treue Kirchgängerin gewesen. Angeblich. Er dachte insgeheim oft an seine Mutter zurück und malte sich dann aus, wie es wäre, wenn sie noch lebte. Meist dann, wenn im Ort die Glocke ertönte.
    Besonders dann, wenn im Ort die Glocke ertönte.
    Dabei wusste Andreas nicht einmal viel über seine Mutter. All dienigen, die er fragen konnte, hielten sich bedeckt. Pfarrer Strobel erwähnte seine Mutter erst gar nicht. Dabei wusste Andreas schon lange Bescheid. Er hatte nie vergessen, dass man sie an einem Sonntag verscharrt hatte. Ganz am Rande des Friedhofs. Fast so wie einen räudigen Hund.
    Andreas schlug nun endgültig die Augen auf und musterte die Wandschräge über seinem Kopf, die mit Postern von Mariah Carey, DJ Bobo und Dr. Alban behängt war. Helles, vom Schnee reflektiertes Licht fiel durch die Vorhänge des Dachfensters in sein Schlafzimmer und auf den Scheiben zeichneten sich Eisblumen ab. Endlich verstummte das Gebimmel. An Schlaf war jedoch nicht mehr zu denken. In die Kirche würde er trotzdem nicht gehen. Strobel wartete schon seit Jahren darauf, dass er kam. Als ob das die Tat seiner Mutter wiedergutmachen würde. Aber ihm war eh egal, was der Pfarrer vom ihm hielt. Oder von seiner Mutter. Allein, dass auch sein Vater so tat, als hätte es sie nie gegeben, schmerzte ihn. Sehr sogar.
    Bei dem Gedanken an seinen Vater richtete sich Andreas hoffnungsvoll auf und lauschte. Doch in der kompletten oberen Etage, die er bewohnte, war es still. Ebenso unten im Haus. Müde und enttäuscht schwang er die Beine über die Bettkante und wollte aufstehen, als er unter seinen Füßen einen kantigen Gegenstand spürte. Der neue Walkman. Auch diesen hatte ihm sein Vater vor einem Monat zum Geburtstag geschenkt. Sein Vater. Andy hielt inne und starrte das Gerät an. Erneut setzte er einen Fuß auf das Gehäuse. Zunächst war es nur ein vorsichtiges Tasten, sodass er die Ecken und Kanten unter seinen Zehen spüren konnte. Dann stand er auf, verlagerte sein Körpergewicht und verstärkte den Druck. Teilnahmslos sah er dabei zu, wie das Kassettenfach unter seinem Fußballen eingedrückt wurde, um dann mit einem lauten Knacken zu zerspringen. Etwas Spitzes stach in seinen Fuß, doch irgendwie fand Andreas den Schmerz befreiend. Er hatte ja noch zwei andere Walkmen. Einer davon lag unausgepackt drüben im Spielzimmer. Jedenfalls, so weit er sich erinnerte.
    Andreas kickte das kaputte Abspielgerät in eine Zimmerecke, wo es gegen achtlos hingeworfene Comics, Spieleschachteln und Schulbücher stieß. Dann stieg er über die Schultasche hinweg und kämpfte sich auf dem Weg zum Bad an Bergen alter Kleidung, aufgestapelten Heftromanen und TV-Zeitschriften vorbei. Einen Moment lang überlegte er, ob er ›Hyper, Hyper‹ von Scooter auflegen sollte. Natürlich möglichst laut, um wach zu werden. Doch dazu hätte er die Silberscheibe erst einmal unter dem großen Haufen anderer CDs finden müssen, die den Weg zu seinem Hifi-Turm versperrten. Ganz obenauflag stattdessen die aufgeklappte CD-Hülle der Kelly Family, deren Musik er gestern Elke auf Kassette aufgenommen hatte. Sie war leer. Die CD musste also noch im Fach stecken. Andreas hielt die Kelly Family für einen üblen Ausbund an Geschmacksverirrung, doch Elke liebte den Song ›An Angel‹, der derzeit im Radio rauf und runter gespielt wurde. Und Elke war einfach klasse. Mit dem herzförmigen Gesicht, den großen blauen Augen, die manchmal total lieb und dann wieder ganz schön frech blicken konnten, und den langen blonden Haaren sah sie wirklich aus wie ein Engel. Sie war ohne Zweifel das hübscheste Mädchen in ganz Perchtal. Unten, in Berchtesgaden, wo sie gemeinsam in eine Klasse gingen, war sie sogar die Hübscheste an der
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