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Weihnachten mit Mama

Weihnachten mit Mama

Titel: Weihnachten mit Mama
Autoren: Alex Thanner
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Schultern legte, den sie jedoch unwillig abschüttelte, indem sie sich einen halben Schritt abwandte. Aber ich hatte gesehen, dass Tränen in ihren Augenwinkeln standen, Tränen, die sich nach außen gekämpft hatten und die sie trotzdem nicht weinen wollte.
    Schneeflocken tanzten im Licht der Balkonbeleuchtung. Es sah hoch romantisch aus, auch wenn es meine Mutter war, die da fröstelnd in der bitteren Kälte stand, erbarmungswürdig wie das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern.
    »Mama …«, begann ich zaghaft.
    »Lass nur, Johannes«, sagte sie. Johannes, nicht mehr Buberl. »Ich … ich habe alles versaut, nicht wahr?«
    Dies wäre der Augenblick gewesen, in dem man eine Bresche hätte schlagen können. Der Moment, reinen Tisch zu machen, die Schmach all der Jahre zu tilgen, alles geradezurücken, was in Schieflage geraten war. Doch es war dieses »versaut«, dieser ihr vollkommen unangemessene Ausdruck, der ihr unter normalen Umständen nie und nimmer über die Lippen gekommen wäre, ja den sie nicht einmal zu denken gewagt hätte, welcher mich mit einer Woge aus Mitgefühl, ja Mitleid übers chwemmte. Ich trat einen Schritt auf sie zu, legte noch einmal den Arm um sie, zog sie fest an mich, und diesmal stieß sie mich nicht weg und wandte sich auch nicht ab, sondern blickte mich an mit einem weidwunden Blick, an dem nichts gespielt oder gestellt war, der ihr wahres Wesen zum Ausdruck brachte. In diesem so seltenen Augenblick zwischen Mutter und Sohn gab sie ihre Souveränität auf, ihre Dominanz, all ihre Ansprüche und Ambitionen. Für diesen einen Moment voller Seligkeit und Schmerz gestattete sie sich selbst, einmal Schwäche zu zeigen.
    »Aber, Mama … wo denkst du hin?«
    »Doch, doch … ich weiß schon. Ich bin schrecklich. Ich kann nicht einmal an meinem eigenen Geburtstag Frieden halten oder stiften. Ich bringe alle in Aufregung, nicht wahr? Warum tue ich das nur? Kannst du mir das sagen?«
    Ich hätte es sagen können, ohne Zweifel. Aber was hätte das gebracht? Es wäre ein so leichter Sieg, ihr jetzt, wo sie seelisch am Boden lag, auch noch ein wohlfeiles Argument in die Brust zu stoßen. Stattdessen vergrub ich meine Nase in ihr Haar und tat das, was ich immer tat. Ich flüsterte nur:
    »Ach, Mama …«
    Ich wusste es nur zu gut, warum sie sich so empörte über den »fehlenden« respektive unbekannten Vater. Es war keineswegs viktorianische Moral oder überholtes bürgerliches Ehrgefühl. Im Grunde war es ihr gleich, wie es auch Papa und Oma und all den anderen letztlich egal war, dass Laura neben ihrem Baby nicht auch den »Erzeuger« präsentieren konnte. Was ihr zu schaffen machte, was ihr wirklich gegen den Strich ging, war auch nicht die Blamage oder etwas ähnlich Ehrpusseliges. Es war etwas sehr viel weniger Bedeutsames. Es war einfach nicht perfekt . Und dieses Weihnachten, dieser Geburtstag, dieser Festtag, er sollte nun einmal perfekt sein. Alle sollten ihn als wunderschön und wunderbar in Erinnerung behalten. Und nicht Lauras »verunglücktes Geschenk«.
    Jetzt stand sie hier, überschwemmt von Schuldgefühlen, dass sie nicht angemessen erfreut oder gar beglückt auf diese weihnachtliche Offenbarung reagiert hatte. Karin hatte schon recht – dieses kleine Wesen, das in Lauras Bauch wuchs, war ein Christkind. Und es hatte Mama die Show gestohlen, noch bevor es auf der Welt war. Das alles war einfach nicht so gelaufen, wie es hätte sollen. So einfach. Und so tragisch.
    »Ach, Mama«, wiederholte ich. Mein Mama-Mantra. Wohl keinen anderen Satz hatte ich in meinem Leben öfter gesagt.
    Sie blickte mich mit tränennassem Gesicht an. Ihr Make-up war zerlaufen, eine Strähne hatte sich aus ihrer hochgesteckten Frisur gelöst und wippte vor ihren Augen wie ein vorwitziges Ausrufezeichen.
    Sie holte einmal tief Luft, als wolle oder könne sie das, was geschehen war, abschütteln. Und vielleicht gelang ihr genau das. Als sie wieder sprach, war ihre Stimme fest und unerschütterlich wie eh und je.
    »Weißt du was, Johannes?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Ich bin ein Dummkopf. So idiotisch. Ja, doch … lass es mich sagen. Ich gehe jetzt wieder da rein und entschuldige mich. Ich nehme Laura in den Arm und heiße sie und ihr Kind willkommen. In unserer Familie. Zu Weihnachten. Sie ist doch im Grunde auch auf der Flucht, weißt du … wie damals Maria in Bethlehem und Ägypten und was weiß ich, wo. Sie wird hier ihre Zuflucht finden, hier bei uns, in unserer Familie, wo sie hingehört.
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