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Weihnachten mit Mama

Weihnachten mit Mama

Titel: Weihnachten mit Mama
Autoren: Alex Thanner
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herablassend tätschelnd. Es war eine Geste voller Zärtlichkeit, voller Zuneigung, die mich unendlich rührte.
    Es gibt Augenblicke, die vergisst man nicht. Dieser war so einer. Ich ergriff die Hand von Julie, die neben mir stand, wagte ihr – zwischen zwei Blitzen – einen Blick zuzuwerfen, in den ich alle meine Liebe legte. Und obwohl sie sich nicht zu mir umdrehte, sondern unablässig der Kamera zugewandt blieb, sah ich an ihrem Lächeln, das eine Spur breiter wurde, dass sie alles mitbekommen hatte, den Händedruck ebenso wie den Blick. Und das, was sie sagen wollten, sowieso.
    Und hier sehen Sie historische Aufnahmen der Familie Siebenschön.

22
    Was du nur immer denkst
    D as letzte Klicken, die letzte Aufnahme war noch nicht »im Kasten«, da waren im Nu die Zwillinge wieder auf den Beinen und riefen ihr Mantra.
    »Bescherung! Bescherung!«
    »Geschenke! Geschenke!«
    Doch wie das so ist mit forcierten Erwartungen, sie werden Mal um Mal enttäuscht. So auch diesmal. Mama ließ sich überhaupt nicht aus dem Konzept bringen oder gar nur erweichen, einen Deut vom seit Jahrzehnten vertrauten Programm abzuweichen oder irgendwelche Zugeständnisse an kindlichen Übermut zu machen.
    »Nein … nein, meine Kleinen. Erst die Weihnachtsgeschichte! Und dann die Weihnachtslieder!«
    »Oh, neeiiiin!«
    »Oh, ja!«
    »Papa?!« Flehentliche Blicke wurden an den Paten von Traunstein gerichtet, doch gegen die Mamma war auch er machtlos. Mit gequältem Lächeln und einem beherzten Heben der Schultern quittierte er das Hilfeersuchen seiner Söhne.
    »Mama?!«
    Auch die Mama der Paten-Söhne musste passen. Sie hustete nur teilnahmsvoll.
    Vollbremsung. Die Zwillinge resignierten maulend, setzten eine demonstrativ gelangweilte Miene auf, die aber niemanden beeindruckte. Jeder wusste, dass das Drehbuch für Weihnachten bei den Siebenschöns seit grauer Vorzeit feststand.
    Die Weihnachtsgeschichte vorzulesen, war und ist das Vorrecht des Patriarchen der Familie. Früher hatte es Opa Siebenschön übernommen, und die Vorträge in seinem gepflegten Bass hatten alle noch in den Ohren. Das war hörbuchreif gewesen, und es stellte sich augenblicklich ein feierliches Gefühl ein, wenn er anhob: »Es begab sich aber zu der Zeit …«
    Papa trat in Opas Fußstapfen und legte eine kaum weniger beeindruckende Leistung hin. Er verfügte über einen ausdrucksstarken Bariton, der zwar nicht dieses vibrierend-wohlige Gefühl erzeugte, dafür jedoch an Seriosität nicht zu überbieten war. Er setzte sich in den Ohrensessel, zog die Lesebrille auf die Nase, was ihm das Flair eines soignierten Schauspielers verlieh, und legte die große Familienbibel mit Goldschnitt, die ihm zur Hochzeit geschenkt worden war, auf seine Knie. Die Weihnachtsgeschichte nach dem Evangelisten Lukas war mit einem roten Lesebändchen markiert, das niemals seine Position wechselte. Denn die Bibel wurde nur einmal im Jahr hervorgeholt, am Heiligabend, und schlief die restlichen dreihundertvierundsechzig Tage des Jahres den ungestörten Schlummer eines wahren Klassikers.
    »Es begab sich aber zu der Zeit …«
    Papa hatte die Bibel in seine Hände genommen und las die ja nicht sehr lange Geschichte vor. Ich hatte derweil Gelegenheit, meinen Blick über die Gesichter aller Anwesenden wandern zu lassen. Darin war alles zu lesen – von der entrückten Andacht bei Karin bis zur gepflegten Langeweile bei Dorle und einem leicht missmutigen Gesichtsausdruck, den Bernhard gegenüber allem, was unter heftigem Kitschverdacht stand, an den Tag legte. Mama hörte wie immer mit geschlossenen Augen zu, als lauschte sie himmlischem Engelsgesang. Charlottes Gesicht war ausdruckslos. Oma Annerose lächelte und war wohl in Erinnerungen versunken. Die Zwillinge starrten zur Decke, unfähig, etwas anderes zu empfinden als kindlichen Verdruss. Der, wie wir alle wissen, sehr tief gehen
kann.
    Als mein Vater die Bibel zuklappte und die Brille von der Nase nahm, herrschte einen Augenblick Ruhe. Jules – oder Jim – öffnete zwar augenblicklich den Mund zu einem neuerlichen: »Und jetzt die Geschenke!«, was aber durch die resoluten Blicke ihrer Eltern gestoppt wurde. Was hatte es auch für einen Sinn … gleich würde es überstanden sein. Also fügten sie sich in das Unvermeidliche.
    Nun standen die üblichen Lieder auf dem Programm. Früher wurden sie musikalisch akkompagniert, durch Klavier – ich –, Blockflöte – Laura – und Gitarre – Robert; Dorle war gänzlich unmusikalisch,
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