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Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)

Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)

Titel: Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)
Autoren: Egon Günther
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Verschwundene zu sprechen sind.
    An einem aschgrauen Nachmittag sitzen beide Frauen nach dem Mittagessen und dem gemeinsamen Abwasch noch für eine Weile in stiller Eintracht am Küchentisch. Carla dreht die Kurbel der Kaffeemühle und sieht dem Jungen versonnen dabei zu, wie er gerade mit seinen Buntstiften hantiert und einen unter vollen Segeln stehenden, mit wüsten Piraten bemannten Dreimaster ausmalt. Unvermittelt bricht sie das Schweigen, und es entfährt ihr der furchtbare Satz: »Bevor er so wird wie seine Mutter, hack ich ihm eher die Hände ab.«
    ruckediguck,
hackt dir die hände ab,
ei, bub, eh du dich versiehst,
hackt sie dir, ruckedizuck,
gleich beide händchen ab
.
    »Die Hände würde ich ihm …«, sagt darauf Lena, und vor Cornelius’ entsetzten Augen fängt die Luft an zu zittern, beginnen die Gesichter der beiden Frauen zu verflachen und ihre Konturen zu zerfließen. Noch bevor die aus der Form geratene Großmutter ihre ungeheuere Antwort fortsetzen kann, gerät die Zeit ins Stocken; rumpelnd wechselt sie das Gleis, erstarrt bis in das Herz des Jungen hinein und läuft erst nach einem unmessbar langen Stillstand wieder an, zögerlich und ruckend. Aus Lenas ins Riesenhafte verzerrtem Mund tropfen gedehnte Silben auf die Tischkante herab, wie ein Gong dröhnt der Nachhall ihres Aufschlags im hohen, schmalen Küchenraum. Stark und unbändig rauscht mit einem Mal das Blut in seinen Ohren. Verwundert starrt er auf die großen Poren in Lenas Gesichtshaut und auf die hervorstechenden Barthaare, die er noch nie zuvor so plastisch wahrgenommen hat. Erneut flackert die Luft, und mitten im Wort löst sich die Zeitlupe auf. Im vertrauten Tempo und in gewohnter Lautstärke bringt die wieder auf Normalgröße zurückgeschrumpfte Großmutter ihre vor Minuten begonnene Antwort zu Ende: »… nicht gleich abhacken«, und sie wirft auf den Jungen einen scharfen prüfenden Blick, »ich würde ihn nur weggeben. Ich hoffe doch sehr, dass er uns niemals so schwer enttäuschen wird.« Spricht’s und klopft zur Bestätigung Cornelius wiederholt mit einem Fingerknöchel hart und kräftig auf die Stirn.
    Cornelius scheint es eine halbe Ewigkeit her zu sein, dass er seine Mutter zum letzten Mal gesehen hat, denn als sie, anscheinend für immer, aus seinem Gesichtskreis verschwand, war er noch ein ganz kleiner Bub. An jenem denkwürdigen Tag knieten seine Mutter und seine Großmutter auf dem Boden der schmalen, langgezogenen Küche einander gegenüber, seine Mutter mit dem Rücken zur Balkontür, seine Großmutter mit dem Rücken zum Küchenherd. Zuerst glaubte der Junge noch, dass sie ein lustiges Spiel miteinander spielten. Die Frauen hatten alle Hocker und Stühle aus dem Weg geräumt und damit eine lange Bahn geschaffen, auf der sie sich gegenseitig einen mit Filz beklebten eisernen Quader zuschoben. Wie ein Eisstock glitt der schwere Block schwungvoll auf dem abgeschabten, mit eintönigen Blumenmustern bedruckten Stragula dahin. Cornelius stand auf den verschlissenen Polstern eines weinroten Kanapees – eigentlich hüpfte er eher aufgeregt von einem Bein auf das andere, als dass er stand – und blickte wie ein quirliger Schiedsrichter von seiner hohen Warte aus vergnügt auf die Bahn, das auf dem gebohnerten Belag hin und her gleitende Geschoss und auf die beiden am Boden knienden Frauen, die jede Fahrt mit erregten Ausrufen und Gelächter kommentierten. Allmählich gellte ihr Rufen und Lachen immer lauter, ihre Schwünge gerieten kraftvoller und heftiger, immer geschwinder schoss der Block hin und her, bald streifte er ein Tischbein und schleuderte aus der Bahn. Da merkte der jauchzende Junge, der die gegnerischen Frauen fröhlich angefeuert hatte, dass unter der Hand aus dem vermeintlich lustigen Spiel ein ernster, unheilbare Wunden schlagender Streit geworden war. Erschrocken begriff er, dass die Rasenden sich längst hasserfüllt angeschrien und dem Eisen jede Menge trotzige Worte, derbe Flüche und irrsinnige Verwünschungen aufgebürdet hatten.
    Nachdem das Gerät mit wuchtigem Schlag in eine Ecke gekracht war, richtete sich die Großmutter des Jungen auf, ihr Gesicht war zu einer blutleeren Maske erstarrt, am ganzen Körper zitternd wies sie ihrer Tochter gestreckten Arms die Tür. Die junge Frau, ebenfalls mit entfärbtem Gesicht, vor Wut bebend und vielleicht vor Scham, erhob sich ihrerseits, stöckelte rasch auf den verlorenen Jungen zu, der nun verstummt und schreckensbleich an den einsamen
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