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Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)

Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)

Titel: Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)
Autoren: Egon Günther
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herum. In nahezu jedem Hausgang müssen diese sogenannten »Invaliden« ein Verbotsschild passieren, das entweder unter oder neben der Hausordnung angebracht ist, auf dem die Worte
Betteln, Hausieren und Musizieren strengstens untersagt
geschrieben sind. Etliche Bettler und Hausierer ritzen nach ihrem Besuch rätselhafte Zinken in die Türrahmen, Weisungen für nachfolgende Kollegen. Als wären sie geradewegs dem verwunschenen Märchenland entsprungen, schleppen mit Hauben und altmodischen Röcken ausstaffierte Kräuterweiber, der gestrengen Hausordnung zum Trotz, ihre Weidenkraxen die knarrenden Holzstiegen der Mietskasernen hoch. Gelegentlich schafft es ein obdachloser Tippelbruder, still und unauffällig auf dem Treppenabsatz vor dem verriegelten Wäschespeicher zu nächtigen. Anderntags entdeckt vielleicht eine Hausfrau die armseligen Spuren seiner Anwesenheit, die Asche aufgerauchter Zigarettenstumpen, ein paar ausgetrunkene, in gelbes Strohpapier gehüllte Likörfläschchen. Gelegentlich stellt vor dem Haus ein Scherenschleifer seinen Wetzstein auf oder geben sich dunkel gewandete Musikanten die Ehre, die im Hinterhof zwischen den Teppichstangen und dem Holunderbusch die Drehorgel bedienen, Trompete blasen und zur Not auch nur zur Mundharmonika einfache Melodien und geläufige Lieder von der Art des
Muss i

denn, muss i’ denn zum Städtele hinaus
darbieten. Cornelius’ Großmutter wickelt dann etwas Zehrgeld in Zeitungspapier, und er darf auf den Küchenbalkon hinaus und das Knäuel den dafür mit einem Lüften und Schwenken ihrer speckigen Hüte dankenden Hofsängern vor die Füße werfen.
    der sonntägliche familienausflug führt ins gebirge und mit der zahnradbahn auf den wendelstein der dreijährige knirps cornelius fühlt sich den ganzen tag nicht wohl in seiner haut das semmelblonde haar ist stramm gescheitelt der leib eingezwängt in den blauen sonntagsstaat unangenehm reibt und kratzt der raue stoff des knabenanzugs scheuert das blütenweiße hemd um dessen zugeknöpften steifen kragen eine graue fliege gebunden ist die steinerne bergkapelle wird von ziehenden wolkenfetzen eingehüllt der steig von der bergstation zum steinernen kircherl ist glitschig die stolpernden füße stecken in engen auf hochglanz polierten schuhen die bergdohlen argwöhnt er haben auf ihn ein scharfes augenmerk auf dem rückweg verfolgt ihn das laute krächzen bis in den schlaf hinein
    An Freitagen sitzt er oft am frühen Abend mit der Großmutter, Bilderbücher betrachtend oder mit Buntstiften malend, in der Küche und merkt dabei zusehends, wie sie immer einsilbiger wird und mit immer unsteter werdendem Blick auf die stur vor sich hin tickende Küchenuhr achtet. Die Minuten schleichen bloß noch dahin, und der große Zeiger scheint auf seiner Runde weit langsamer vorzurücken, als er dies gemeinhin zu tun pflegt. Sobald eine angemessene Wartefrist vergangen ist, stößt die Großmutter einen ergebenen Seufzer aus, erhebt sich vom Tisch, geht in den Flur hinaus und langt die Mäntel von der Garderobe.
    Cornelius stapft an ihrer Hand den an sich kurzen, ihm aber ewig lang vorkommenden Weg hinauf bis zur Eurasburg, einer Gaststätte, aus der lautes Stimmengewirr ins Freie dringt. Im rauchgebeizten Schankraum herrscht Hochbetrieb, die Arbeitsmänner rauchen, lachen, schwatzen, spielen Karten und vertrinken gemächlich ihren Wochenlohn. Die Großmutter bleibt vor der Schwelle stehen, und Cornelius muss allen Mut zusammennehmen, um allein einzutreten. Im zwielichtigen Trubel macht er den Großvater ausfindig, der beim Watten am Stammtisch sitzt. Unter dem höhnischen Gelächter der abgebrühten Säufer bittet er ihn, zur wartenden Großmutter herauszukommen. Der Junge fühlt sich zwar recht elend dabei, aber immerhin ist dank seines beherzten Eingriffs ein beträchtlicher Teil des Haushaltsgeldes davor bewahrt worden, vertrunken und verspielt zu werden.
    An anderen Werktagen trifft sich der Großvater nach der Arbeit nicht mit seinen Kumpanen in der Eurasburg, sondern kommt in der Regel zeitig heim; dafür schickt er den Enkel mit einem leeren Seidel zum Bierholen an die Gassenschenke des nur ein paar Schritte entfernten Wirtshauses am Wasserturm. Cornelius hat sich die Anfeindungen und Vorwürfe, die sich der Großvater wegen seiner Trunksucht aus dem Munde der Großmutter anhören muss, so stark zu Herzen genommen, dass er eines Tages bei der Erledigung seines Auftrages das schäumend helle Nass mit Absicht auf dem Trottoir
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