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Wasser zu Wein

Wasser zu Wein

Titel: Wasser zu Wein
Autoren: Anne Chaplet
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Gang entlang nach vorne ging, etwas zusammengekrümmt, so, als ob sie etwas Verbotenes tue. Sie rümpfte die Nase beim Gedanken an den Geruch, der von der Frau zu ihr herübergeweht war. Nach Schweiß, frischem Parfüm und alten Kleidern. Und nach etwas anderem, das sie nicht definieren konnte. Aber vielleicht bildete sie sich das nach all der Zeit nur ein.
    Sie faltete die Hände im Schoß und merkte erst gar nicht, wie sich die Gemeinde erhob – wie eine Gänseherde von der Weide, in einer Welle und mit rauschenden Kleidern. Fast hätte sie vergessen, mit aufzustehen. Die Gestalt der Frau stand so überdeutlich vor ihrem Auge. Wie sie im Gang gezögert hatte, wohl unschlüssig, ob sie nach rechts oder nach links in eine der Stuhlreihen gehen sollte. Nicht auszudenken, wenn sie nach links gegangen wäre! Agata schüttelte sich, als ob ihr kalt wäre. Dabei war es draußen schon recht warm – so warm wie damals. Deshalb war ihr auch aufgefallen, wie dick die Frau sich angezogen hatte, eingemummelt in einen Mantel, mit einem schwarzen Tuch über dem Kopf.
    Geistesabwesend murmelte sie das Glaubensbekenntnis mit, das die Gemeinde routiniert herunterbetete, mittendrin der trockene Husten des alten Karnack, der wie immer auf seinem Stammplatz saß: in der Mitte der Reihe ganz vorne. Der hatte auch Glück gehabt. Wenn die Frau nicht nach rechts gegangen wäre – dann säße der heute nicht da. Und sie auch nicht, mit all den Erinnerungen an den schlimmsten Tag ihres Lebens. Fast der schlimmste. Schlimmer war nur noch der Tag gewesen, an dem Vater gestorben war. Der Unfall. All das Blut. Sein bleiches Gesicht. Sie bekreuzigte sich hastig. Gott hab ihn selig.
    Agata hatte die Frau nicht gekannt. Andere wohl: Maria und Theo hatten zu ihr hinübergegrüßt. Sie hatte völlig unbewegt zurückgeschaut und war dann weitergegangen. Unhöflich, hatte Agata damals gedacht. Heute sah sie das anders. Sie preßte die Lippen zusammen. Heute wußte man auch mehr.
    Eine Frau aus der Nachbarschaft war sie gewesen – in Wingarten aufgewachsen, aber das war schon eine Weile her. Am nächsten Tag wußte plötzlich jeder irgend etwas über sie zu berichten – auch die, die sie gar nicht gekannt hatten: Sie galt als freundlich, ein bißchen schüchtern, lebte sehr zurückgezogen, in Scheidung von ihrem Mann. Der Sohn war tot, noch gar nicht lange, jung war er gestorben, kurz vor seinem zwanzigsten Geburtstag.
    Also eher unwahrscheinlich, daß die Frau schwanger war. Aber sie hatte so ausgesehen. Auch das Mädchen hatte ihr neugierig auf den Bauch geschielt, als sie sich endlich in die Reihe hinter dem Kind zwängte.
    Das Kind, das Kind. Agata schloß die Augen und atmete tief die feuchte Kirchenluft ein, die vertraute Mischung aus Putzmittel und Blumenduft und Weihrauch und Mottenkugeln. Manche Leute hatten die auch heute noch in den Taschen ihrer Festtagsgarderobe stecken, die sie seit zwanzig, dreißig Jahren schonten und nur sonntags aus dem Schrank holten. So hatte Vater feiertags gerochen: nach Bier, Rasierwasser, Zigarettenrauch und Mottenkugeln. Unter der Woche hatte sie der Bierdunst weit weniger gestört, da rasierte er sich nicht und alles wurde übertönt vom trockenen, warmen Geruch von Sägespänen in seinen Arbeitsklamotten. Wenn er nur weniger getrunken hätte – nur ein paar Biere und Schnäpse weniger. Dann wäre nichts passiert. Vielleicht nicht.
    Was für ein nutzloser, hilfloser Gedanke, dieses »Wenn, dann«. Agata Perski, nach eigener Einschätzung gerade eben noch jung, blond, polnisch, fleißig, seufzte und rutschte auf der Bank ein Stück nach hinten, bis sie wieder bequem saß. Die beiden Frauen neben ihr hatten die Handtaschen an die Haken in der Rückenlehne der Vorderbank gehängt und den Kopf über die gefalteten Hände gesenkt. Pfarrer Warnhart las aus dem Evangelium. Er hatte eine tiefe, tönende Stimme und war bei den Frauen sehr beliebt. Er hatte auch damals die Predigt gehalten. Kurz, bevor es passierte. Agata merkte plötzlich, daß sie schon eine ganze Zeitlang den Atem angehalten hatte, und atmete aus. Und tief wieder ein. Was war der Frau wohl im Kopf herumgegangen – kurz, bevor es passierte?
    Hatte sie sich gefragt, ob sie auch die Geschirrspülmaschine ausgemacht hatte? Ob die Wäsche gebügelt war und der Mülleimer geleert? Agata schlug sich erschrocken mit der Hand auf den Mund – fast hätte sie laut gelacht. Schon ihr leises Prusten hatte die Schultern der Alten in der rosafarbenen
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