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Wasser zu Wein

Wasser zu Wein

Titel: Wasser zu Wein
Autoren: Anne Chaplet
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Mitgefühl mit Sebastian. Der hatte gehandelt – schnell und präzise. Und nicht so herumgestümpert wie Elisabeth. Und – wie Eva.
    »Du siehst Eva noch immer als Opfer, oder?« fragte sie Paul nach einer Weile.
    »Was sonst?«
    »Und Elisabeth auch?«
    »Was sonst?« Er sah verwundert aus.
    »Was sonst. Genau.« Als ob beide nicht auf ihre ganz spezielle Weise andere dafür hätten leiden lassen. »Arme unschuldige Lämmer.« Paul hatte die Augenbrauen zusammengezogen und schüttelte den Kopf. Sie legte ihm die Hand auf den Arm. »Könntest du dich mal kurzfristig auf eine andere Sichtweise einlassen?« Er nickte, wenn auch zögernd.
    Sie dachte kurz nach. Dann sagte sie langsam: »Sieh es doch mal anders herum. Eva Lambert hat sich nicht still und leise ums Leben gebracht – wirklich nicht. Sie hat sich die Mühe gemacht, ihren Tod zu inszenieren. Sie hat fünf Menschen mitgehen lassen. Sie hat ein Kind getötet.«
    Sie merkte, wie Paul zurückzuckte. Er mochte den Gedanken nicht. Er hing an seinem Bild von der blonden Unschuld. Karen merkte plötzlich, wie sehr es sie reizte, in dieser Wunde zu bohren. Konnte er Frauen nicht einmal realistisch sehen?
    »Rache, Paul.« Das war die pure Spekulation. Sie hatte keinen Anhaltspunkt für diese These. Nur ihr Gefühl, das ihr sagte, was plausibel war. »Eva hat sich gerächt. Indem sie den einen Menschen mitgehen ließ, mit dessen Tod sie das Glück ruinieren konnte, das andere noch hatten, während ihres verloren war.« Sie sah Paul an. Er hatte eine steile Falte über der Nasenwurzel. Es gefiel ihm nicht, was sie sagte.
    »Denk doch mal nach, Paul. Sie hat sich in der Kirche direkt vor das Mädchen gesetzt. Sie wußte, daß Bettine mit ihr sterben würde.«
    »Rache? An Sebastian?«
    »Wieso an Sebastian?«
    Paul wollte es immer noch nicht sehen.
    »Nein, Paul. Eva wollte sich an einer Frau rächen. An ihrer alten Freundin. Die alles hatte, was Eva nicht mehr hatte – ein schönes Haus, einen netten Mann und ein gesundes Kind.«
    »An Elisabeth.«
    »Und Elisabeth hat das nicht wahrhaben wollen. Elisabeth hat Eva zum Opfer erklären müssen – sonst hätte sie erkannt, daß eigentlich sie das Opfer war; daß sie es war, an der jemand Rache übte auf eine der grausigsten Arten, die Menschen sich vorzustellen vermögen. Und sonst hätte sie erkennen müssen, daß dazu Haß nötig war – daß sie in einer anderen Frau soviel Haß hervorgerufen haben mußte, daß die auch vor dem größten Tabu nicht zurückschreckte. Vor Kindsmord.«
    Karen atmete tief ein. Plötzlich scheute sie selbst vor dieser Vorstellung zurück.
    »Elisabeth hat den Gedanken wahrscheinlich unerträglich gefunden. Lieber hat sie die Schuld bei einem Mann gesucht.« Sie drehte mit nervösen Fingern ihr Glas hin und her. »Aber es sind nicht immer die Männer.«
    Sie wußte nicht, warum sie sich auf einmal schwach und hilflos fühlte. Warum ihr die Tränen in die Augen schossen. Nur, daß es wohl tat, von Paul in den Arm genommen zu werden.
    Er nahm ihr das leere Glas aus den Fingern. Und sagte: »Ist ja gut. Ist ja gut. «
    Als sie wieder aufblickte, war der junge Vater gegangen. Paul sah ihr mit einer Mischung aus Besorgnis und Zweifel ins Gesicht, die sie unter normalen Umständen zum Schütteln gefunden hätte. Jetzt war es ihr egal. Hauptsache, sie war nicht allein.
    »Vielleicht hast du recht. Wir werden es nie erfahren«, sagte er nach einer Weile.
    Sie schniefte auf.
    »Andererseits – woher sollte Eva wissen, daß Bettine genau an diesem Tag in der Kirche war?«
    Sie strich sich die Haare aus der Stirn.
    »Und was ist mit Sebastian?« sagte er schließlich.
    Jetzt lächelte sie wieder. »Es sind auch nicht immer die Frauen«, sagte sie. »Schon recht.«

10
    Klein-Roda, Monate später
     
    Es hatte die ganze Nacht gestürmt und geregnet. Das Haus ächzte und stöhnte, als Bremer um fünf Uhr aufwachte. Draußen flappte die Plastikplane im Sturm, die er über den Holzstoß gebreitet hatte. Irgend etwas klapperte gegen die Hauswand – weiß der Himmel, was der Sturm alles losgerissen hat und jetzt durchs Dorf treibt, dachte Paul. Dann hörte er es über sich klopfen, erst langsam, dann ein bißchen schneller und schließlich mit Vorsatz. Er fluchte in sich hinein. Er hatte keine Lust, sich aus dem warmen Bett zu erheben und auf seinem morschen Dachboden nach dem einen Ziegel zu suchen, der sich gelöst hatte oder gar gebrochen war. Andererseits: Steter Tropfen höhlte alles, und er
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