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Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)

Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)

Titel: Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)
Autoren: Verena Kast
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schambesetzt sind. Scham verhindert aber, dass relevante Erinnerungen vergegenwärtigt werden können.
    Der Zugang zu unseren Erinnerungen ist von Emotionen und Themen abhängig, die uns gerade beschäftigt haben. Haben wir gerade an etwas Bedrückendes gedacht, oder auch nur etwas Bedrückendes wahrgenommen, werden wir eher auch wieder an Bedrückendes aus unserer Lebensgeschichte denken und bedrückende Erinnerungen erzählen.
    Es ist möglich, die Erinnerungsarbeit dadurch zu beeinflussen, dass man nicht nur die schambesetzte Situation erinnert, sondern Themen und Bilder anspricht, die mit Selbstakzeptanz in Verbindung stehen. Dadurch wird das Unbewusste beeinflusst, und dieses beeinflusst dann auch wieder das Bewusstsein. Wir wissen heute, dass man das Unbewusste »einstellen«, »prägen«, »primen« 84 kann.
     
    Wie sieht das praktisch aus?
    »Ich bin so furchtbar misstrauisch« – das sagt ein 82-jähriger Mann, der vom Arzt in eine »kurze Psychotherapie« überwiesen wird. Denn eine lange, so der Arzt, lehne der Mann ab. Er wirkt natürlich misstrauisch, macht als erstes mit mir ab, dass er nur acht Mal kommen werde. Ich bin einverstanden.
    Über sein Leben erzählt er zunächst über ein paar dürre Daten hinaus nichts. Er sei halt misstrauisch. Ob er eine Erklärung dafür habe, dass er gerade jetzt wegen Misstrauen Therapie haben möchte?
    Er habe keine Erklärung, aber der Arzt habe gemeint, es hänge mit seiner zunehmenden Schwerhörigkeit zusammen. Da werde man unsicher. Was er denn nicht mehr hören könne? »Wie die anderen Schlechtes über mich sagen, wenn sie sagen, ich solle mich schämen.« Weiter fiel ihm nichts mehr ein. Wir waren auf vermintem Gelände.
    Ich schlug ihm vor, wir könnten einiges aus seiner Lebensgeschichte wieder lebendig werden lassen. So könnten wir dann herausfinden, was hinter seinem Misstrauen stecke. Wer misstrauisch ist, wird nun allerdings eher Episoden des Misstrauens erinnern als gute Erfahrungen.
    Um das Unbewusste auch auf andere Themen einzustimmen, kann man andere Themen beleben: Ich frage in solchen Situationen nach Episoden, die freudigen Stolz, stolze Freude oder einfach Freude ausgelöst haben. 85 Damit sind nicht nur andere Themen angesprochen, sondern auch Themen, die im Zusammenhang mit einem guten Selbstwertgefühl stehen. Solche Episoden aus dem Leben helfen, bei einem Erinnerungsknoten nicht nur etwas Schlimmes, sondern auch Erfreuliches zu erinnern, und damit ist die Möglichkeit gegeben, dass die eigene Geschichte anders erzählt werden kann.
    Die Erinnerung an freudige Situationen ist nicht Abwehr der schrecklichen Erfahrungen. Gelingt es, einige Erinnerungen, die mit Freude verbunden sind, ins Erleben zurückzuholen, ist es auch etwas leichter, sich den schrecklichen Erinnerungen zu stellen: Mit einem besseren Selbstwertgefühl kann man das Grauen besser zulassen und aushalten.
    Aspekte der Freudenbiografie erlebe ich als besonders hilfreich in der therapeutischen Arbeit mit alten und sehr alten Menschen. Wenn Menschen zunächst wenig Zugang zu Freude haben, dies vielleicht sogar kindisch finden, findet man einen Zugang dazu über die Frage nach Situationen in ihrem Leben, die freudigen Stolz ausgelöst haben. Diese Situationen kann man sich auch mehrmals erzählen lassen – das machen alte Menschen meistens gerne. Beim Erzählen wird dann die damit verbundene Emotion, die stolze Freude, der freudige Stolz, erlebbar. In der Regel werden dann weitere verwandte Situationen erinnert – die Biografie vom freudigen Stolz wird rekonstruiert oder konstruiert. Die Freudenbiografie stärkt das gute Selbstwertgefühl und bewirkt, dass die quälenden Erinnerungen in einer anderen, freudigeren Grundstimmung abgerufen werden können, vor allem aber, dass neben diesen quälenden Erinnerungen auch gute Erinnerungen bestehen können. Das ist aber therapeutisch schon ein Riesenschritt, verändert die Selbstwahrnehmung und das Wohlbefinden entscheidend.
     
    So gehe ich auch bei dem Mann vor, der sich als misstrauisch erlebt: Gibt es etwas in seinem Leben, das ihn mit freudigem Stolz erfüllt hat?
    »Ich war ein sehr guter Sportler – kein Spitzensportler – aber ich habe einige Marathons in guter Zeit gelaufen – und meine Frau hat damals gesagt: ›Das soll dir mal einer nachmachen in deinem Alter.‹« Wie alt war er? Er war 45.
    Und es folgten viele ähnliche Geschichten. Es gelang ihm vieles – auf der sportlichen Ebene. Er war nicht an der Spitze, doch
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