Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)

Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)

Titel: Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)
Autoren: Verena Kast
Vom Netzwerk:
seine Frau und später seine Kinder freuten sich mit ihm darüber. Mit so einer kleinen Bemerkung sagt er schon viel über sich aus, über seinen Hunger nach Anerkennung, seine Freude darüber, seine Bereitschaft, etwas dafür zu tun und seine Fähigkeiten. Auch der Stolz darüber, dass er eine Familie hat, die ihm geben kann, was er braucht – Unterstützung und Anerkennung – ist spürbar.
    Emotionell veränderte sich durch diese Erzählungen unsere Situation: Dieser misstrauische, mürrische Mann erzählte mir eine Geschichte nach der anderen. Ich bestätigte, fragte oft genau nach; da schloss er jeweils die Augen, um besser zu erinnern, wie es denn wirklich gewesen war. So lernte er Imagination. Und so langsam näherten wir uns auch seiner Kindheit an. Da sagte er: »Obwohl ich immer geschlagen wurde – ich war ja nur das angenommene Kind – hatte ich doch viel Freude. Ich war körperlich geschickt – und das machte viel Freude.«
    Und dann: »An diesen geschlagenen Buben wollte ich gar nicht mehr denken, aber jetzt ist er doch da.« Er sprach von einer elenden Jugend, von Verachtung, von Lieblosigkeit. Er sollte sich immer schämen wegen irgendetwas. Er war einfach nicht in Ordnung. Wenn immer etwas schiefging, wurde es ihm angelastet. »Kein gutes Wort …« Vor allem aber erzählte er dann auch davon, wie er immer »gewitzter« wurde, zum voraus erkannte, wann der Pflegevater wieder seine Wutanfälle bekam, wann er für einen »richtigen« Sohn den Kopf hinhalten sollte. »Ich habe höllisch aufgepasst, das war gut, das war sehr gut.« Er vertiefte sich in seine Bilder vom erfolgreichen »höllisch Aufpassen« – erzählte mir Geschichten davon. »Es war ein furchtbares Schicksal, das würde ich keinem Hund gönnen, aber ich bin stark geworden – und ich habe bald meine Frau gefunden. Die habe ich gut geschützt.«
    Er verstand dann, dass sein »höllisch Aufpassen« ein Thema ist, das ihn durch das ganze Leben begleitet hat. Er versteht auch, warum er jetzt noch misstrauischer ist als früher: »Ein Wachhund muss gut hören können.« Seine Frau könne er vor dem Tod nicht beschützen, es gehe ihr gut, aber sie sei auch über 80. Ihm fiel ein, dass er jetzt ja nicht mehr so höllisch aufpassen müsse. Es gebe da ja noch Kinder und Enkel, die würden auch etwas auf sie beide aufpassen. Und diese schreckliche Kinderzeit, die sei ja gottlob vorbei.
    Und diese Scham? »Ich brauche mich nicht zu schämen, ich habe etwas aus meinem Leben gemacht. Ich bin jetzt richtig froh, dass wir miteinander gesprochen haben – jetzt kann ich doch für den Rest meines Lebens noch als aufrechter Mann gehen.«
    Er ist versöhnt mit seinem Schicksal, ein wenig stolz auf sich, und er fühlt sich frei für die Zukunft. Ihm ist jetzt bewusst, dass er darauf vertraut, dass seine Kinder und Enkel notfalls auch »höllisch aufpassen« können.
    Er verlässt die Praxis, sehr aufrecht – er ist etwas losgeworden und hat etwas verstanden.
Schuldkomplex
    Komplexe nennt man in der Psychotherapie nach C. G. Jung schwierige Beziehungserfahrungen, die emotional betont sind. Ein Kind wird ständig als Sündenbock dargestellt. Diese Zuschreibung wird von einem Elternteil oder einem Geschwister mit Ablehnung in der Stimme formuliert. Der Empfänger, die Empfängerin dieser Zuschreibung wird je nach Temperament ängstlich, verzagt oder ärgerlich werden. Hören wir eine solche Zuschreibung immer wieder, dann verinnerlichen wir sie, samt den damit verbundenen Emotionen. Ähnliche Erfahrungen werden als Bestätigung für diese eine Schwierigkeit genommen: Ich bin immer schuld. Damit ist ein bestimmtes Lebensgefühl verbunden: Resignation, unterdrückte Wut, Angst. In der Folge beschuldigt man sich dann leicht selbst, aber auch, meist unbewusst, andere in einer ähnlichen Weise. Diese Komplexe bestimmen also die Beziehung zu sich selbst und zu anderen Menschen – und es ist dann immer dieselbe Erfahrung und dieselbe Emotion, als hätte sich die Komplexepisode gerade aktuell ereignet. Diese Beziehungserfahrungen sind insofern komplex, als verschiedene Erfahrungen, die dieselben Emotionen auslösen, oder die um dasselbe Thema kreisen, sich verdichten und oft durch eine einzige Erfahrung, eine Komplexepisode, ausgedrückt werden. 86 Menschen erinnern sich an eine Geschichte, in der deutlich wird, wie eine solche Zuschreibung erfolgte. Diese eine Geschichte, die als Komplexepisode erzählt wird, hat es vielleicht gar nicht gegeben, aber viele
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher