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Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)

Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)

Titel: Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)
Autoren: Verena Kast
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Stillstand bringen. Früher hat man in diesem Zusammenhang von pathologischer Trauer gesprochen. 88
    Bei gewissen Fällen von komplizierter Trauer kann eine Lebensrückblickstherapie hilfreich sein.
    Ein 68-jähriger Mann hat seine Frau verloren und kommt im Moment mit seinem Leben schlecht zurecht. Einer kurzen Therapie, die sein Arzt vorschlägt, stimmt er lustlos zu.
    Er wirkt verbittert, sagt von sich selber, er möchte nicht mehr leben. Er sei unzufrieden mit seinem Leben, mit seinen Kindern, mit der Welt, wie sie jetzt so sei.
    Auf die Rückfrage, ob es in seinem Leben auch etwas gebe, das er als zufriedenstellend erlebt habe, sagt er, im Beruf habe er Erfolg gehabt. Und er habe die Familie gut über die Runden gebracht, aber seine Familie habe das nicht geschätzt. Sie hätten gerne mehr Geld, einen besseren Status gehabt, seine Frau hätte halt gerne einen Akademiker gehabt, die Kinder auch … Ein an sich gutes Leben, scheint mir, aber es wird jetzt, vielleicht ausgelöst durch den Verlust, schlecht gemacht.
    Ich bitte ihn, sich vorzustellen, was ihn als etwa sechs- oder siebenjähriges Kind mit freudigem Stolz erfüllt habe. Er erzählt mit leuchtenden Augen, er sei damals schon sehr geschickt gewesen mit Motoren. Er sei auch körperlich geschickt gewesen und er erzählt davon, wie er auf Bäume geklettert sei.
    Dann verdüstert sich seine Miene: Er habe aber auch gelogen, manchmal die Motoren, statt sie zu flicken, noch mehr kaputt gemacht und behauptet, das sei schon so gewesen. Das ist ihm heute noch sichtbar peinlich.
    Auf meine Bemerkung, Kinder würden so etwas doch machen, sagt er nachdenklich: Seine Kinder hätten das schon auch so gemacht, die Enkel auch – »mit Motoren umgehen, das kann man einfach in unserer Familie.« Endlich darf etwas Gutes stehen bleiben.
    Er sagt dann weiter: Er denke nicht gerne an sich in den ersten Schulklassen, er hätte immer dem Lehrer gefallen wollen – mehr als üblich; er habe sich an alle möglichen und unmöglichen Menschen gehängt, Botengänge für sie gemacht, geholfen, für ein gutes Wort.
    Für ein Lob, eine Anerkennung, sei er weit gelaufen. »Absolut korrumpierbar, würde ich heute sagen. Das ist ekelhaft, das empfinde ich heute noch als ekelhaft.«
    Wurde er zu Hause gelobt? Schon, aber es war etwas karg, und er brauchte einfach mehr, er war unersättlich. Wie er so sprach, wurde die Verachtung für diesen Buben, der nach Anerkennung gierte, geradezu spürbar.
    Ich erwähnte, dass die Aussicht, menschliche Zuwendung, Anerkennung und Akzeptanz zu bekommen, alle Menschen motiviert, sich einzusetzen. Dass also grundsätzlich nichts falsch war an seinem Verhalten – vielleicht das Maß.
    Da er sich darüber beklagte, dass in der Familie der Erfolg im Beruf nicht wirklich geschätzt wurde, fragte ich ihn danach, wie er denn versucht habe, Anerkennung in der Familie zu bekommen. »Mit Anerkennung kann man nicht rechnen.« Das war offenbar ein Lebensmotto und er meinte, er hätte es aufgegeben, Anerkennung zu suchen, kann aber nicht sagen, wie er die Anerkennung gesucht hat, als er das Suchen noch nicht aufgegeben hatte.
    Er erinnert sich dann doch: Kürzlich hat ihn sein Sohn gefragt, wie er denn über die schwierigen Jahre in seiner Branche gekommen sei. Er hat das als eine versteckte Anerkennung verstanden und freute sich, dass sein Sohn seine, des Vaters Kompetenz, abruft, um in einer ähnlichen Situation, die sich abzeichnet, gewappnet zu sein.
    »Ich habe nicht viel gesagt, nur, es sei immer gegangen.«
    Es fällt ihm ein, dass er die Anerkennung eher abgewehrt hat, dass er zu wenig daraus gemacht hat, dass er damit dem Sohn auch keine hilfreiche Information gegeben hat.
    Wie holen sich die Enkel die Anerkennung? »Die buhlen auch um meine Anerkennung! Ich habe das gern, aber ich gebe ihnen nicht zu viel, die sollen auch lernen, ohne Anerkennung zu leben.« – Auf meinen fragenden Blick hin sagt er: »Sie halten das für zu hart, nicht? So schlimm bin ich nicht mit meinen Enkeln.«
    Jetzt kann er sich als Junge anders sehen: Eigentlich war er ein Kind, das viel für andere Menschen tat, um auch ein wenig gelobt zu werden, nett. Vielleicht war er kein ekliges Kind, sondern auch ein nettes? Vielleicht schon zu klebrig – aber irgendwie muss ihm doch etwas gefehlt haben, und das hat er sich geholt.
    Die Scham darüber, als Kind, aber auch später, so viel Anerkennung zu brauchen, um sich wohl zu fühlen, wich dem Mitgefühl und der Erkenntnis: Eigentlich
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