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Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)

Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)

Titel: Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)
Autoren: Verena Kast
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Sie fühlt sich zusammengekrümmt im Bett liegen, voller Angst und diffuser Schuldgefühle. Sie hört die Mutter sagen: Sie ist nicht schuld. Sie ist nicht schlecht.
    Was ist zu dieser Zeit sonst noch geschehen? Die Großmutter ist gestorben, die das Kind gerne frisiert und die gern gebacken hat. Der Tod der Großmutter ist in ihrem Leben untergegangen. Großeltern sterben halt. Aber vielleicht hat sie etwas verloren mit dem Tod der Großmutter? Diese Nähe beim Frisieren? Die Freude an ihrer Schönheit? Offensichtlich wollte die Großmutter das Kind »schön machen« und es mit Backwaren nähren, verwöhnen. Die Großmutter beschuldigte sie nicht, bei der Großmutter gab es eine Oase der Freundlichkeit.
    Die Schule gefiel ihr, sie hatte keine Mühe, fiel aber auch nicht irgendwie auf, sie war gewissenhaft. Nach diesen und weiteren Erinnerungen an gute oder auch emotional eher neutrale Erfahrungen, bat ich sie, sich die Komplexepisode erneut vorzustellen.
    Sie liegt als Zwölfjährige im Bett und hört die Eltern streiten. Sie hört den Vater sagen: Sie ist eitel, eingebildet, hilft nicht. Die Mutter beschwichtigt: Das stimmt nicht.
    Die Frau sagt plötzlich voll Ärger: »Das stimmt doch alles nicht, warum sagt er das bloß! Der will nur von seinem Alkoholproblem ablenken! Warum habe ich das als Zwölfjährige nicht gesehen?«
    Es ist etwas viel verlangt von einer Zwölfjährigen, diese Zusammenhänge zu erkennen. Aber vielleicht wäre es jetzt an der Zeit, diese zu erkennen?
    In der Folge reflektierte sie über die verschiedenen schwierigen Erfahrungen. Für die Krankheit und den Tod der Mutter konnte sie nichts. Das war eine sehr schwierige, traurige Erfahrung für sie als Jugendliche. Sie wusste, dass Menschen nicht einfach sterben, wenn ein Kind einmal aufmüpfig oder unflätig ist: »Da braucht es schon mehr.«
    Sie erinnerte sich aber auch, wie sehr ihre Mutter ihr leid getan hatte mit all den Schmerzen – und sie konnte ihr nicht helfen. Es war schrecklich, so hilflos zu sein. Der Vater war auch hilflos. Die Großmutter war gestorben, nur die Tante war noch da, aber letztlich auch hilflos. Alle waren sie hilflos, und jedes blieb allein mit dieser großen Hilflosigkeit.
    Sie hat immer verstanden, dass die Berufswahl, die sie getroffen hat, mit der Krankheit der Mutter zusammenhing. Wir verstanden das miteinander als einen Versuch der Wiedergutmachung einerseits, aber auch des Vorbeugens: Nie mehr so hilflos sein angesichts des Todes. Ihren Mann hatte sie einfach geliebt, obwohl er krank war. Sie ist aber auch stolz darauf, nicht geflohen zu sein vor der Krankheit.
    Anhand der Bilder, die sie sich für ihre Lebenssituation einfallen ließ, konnten die Veränderungen in ihrem Lebensgefühl gut nachvollzogen werden: Nachdem wir an dieser Schuldkomplexepisode gearbeitet hatten, fand sie, sie hätte die Heuballen abgeworfen. Der Himmel war immer noch drückend, sie ging aber nicht mehr gebückt, sondern aufrecht. Dann werden einzelne Wolken am Himmel sichtbar. Die Atmosphäre ist eher heiter.
    Damit korrespondierte, dass ihr Lebensüberdruss verschwunden war. Sie war eher des Schuldkomplexes überdrüssig – wenn immer wieder diese Gefühle der Schuld belebt wurden, sprach sie mit sich selbst, holte die Argumente zurück, die wir miteinander entwickelt hatten, aber auch die Gefühle der Befreiung, als sie plötzlich rückwirkend so ärgerlich auf ihren Vater geworden war. Es folgte eine Auseinandersetzung mit ihrem unterdessen gestorbenen Vater. Sie versuchte, nicht einfach ihm die ganze Schuld zuzuschreiben, benannte aber deutlich, was sie als ungerecht empfunden hatte. Er war – wie er war. »Aber er hat nicht die Verantwortung für sein Leben übernommen – oder doch, nachdem wir uns entfernt hatten?«
    Ihn sozusagen verlassen zu haben, indem sie kaum Kontakt zu ihm aufrecht hielt, »ihn dem Schicksal überließ«, empfand sie nun als falsch. Aber sie hatte es getan. Sie hatte zwar einige gute Gründe dafür gehabt, aber jetzt fand sie es lieblos. Dieses Schuldgefühl ist ein tiefes Schuldgefühl, das nicht wegzudiskutieren ist, auch nicht wegerklärt werden soll: Das ist einfach so. Es war falsch. Aber es war so. Menschen machen Fehler, das gehört dazu.
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