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Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)

Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)

Titel: Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)
Autoren: Verena Kast
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Geschichten, die um das gleiche Thema kreisen und die damit verbundenen Emotionen verbinden sich zu einer überzeugenden Erinnerung, die wir als Komplexepisode erzählen können. Wird im Laufe des Lebens das Thema der Komplexepisode nur andeutungsweise angesprochen, wird der Komplex reaktiviert und damit auch die entsprechenden Emotionen: Man fühlt sich wie damals als Kind und benimmt sich oft auch entsprechend. 87
    Komplexhafte Schuldgefühle können generalisiert werden. Man ist dann an allem schuld: am eigenen Unglück, am Unglück der anderen. Legt sich so ein Schuldteppich über das Leben, hat man wenig Lust, sich zu erinnern, oder aber, man erinnert nur, was diese Schuldbiografie bestätigt.
     
    Eine 62-jährige Frau überlegt sich, ob sie sich suizidieren soll. Das will sie in einigen wenigen Gesprächen klären: Sie ist ihres Lebens überdrüssig. Sie hat alles falsch gemacht, ihr Leben war schwer – und sie ist selber schuld daran. Ihre Eltern hatten ihretwegen oft Streit, besonders, wenn der Vater nachts betrunken nach Hause kam. Sie hörte jeweils die Streitereien, hörte auch, wie die Mutter sie in Schutz nahm. Das freute sie zwar, aber sie fand, sie belaste die Mutter, und deshalb hatte sie Schuldgefühle. So wenigstens sieht sie es aus heutiger Sicht.
    Die Mutter wurde krank und starb, als das Mädchen etwa 15 Jahre alt war. Der Vater beschuldigte sie, ihretwegen sei ihre Mutter krank geworden und gestorben – eine schwere Schuldzuschreibung für eine Jugendliche.
    Sie war schon immer ein gewissenhaftes Mädchen gewesen, in der Folge wurde sie noch gewissenhafter. Sie drückt ihre damalige Lebenssituation mit einem Bild aus: »Ich war immer wie unter einer grauen, großen Last.« Nicht einfach unter einem grauen Himmel, sondern unter einer grauen Last. Diese verband sie mit Heuballen, die sie als Kind auf dem Rücken getragen hatte.
    Nach dem Tod der Mutter lebte sie mit ihrem um drei Jahre jüngeren Bruder bei einer Schwester der Mutter. Das war in ihrer Erinnerung eine gute Zeit. Sie hatte »nur« Schuldgefühle wegen des Vaters, der ihr immer wieder vorwarf, sie würde das Leben genießen und ihn und die Mutter vergessen. Das stimmt teilweise sogar, fand sie. Sie besuchte eine Haushaltungsschule, und das gefiel ihr. Sie fühlte sich so gut wie noch nie in ihrem Leben.
    Sie wurde Krankenschwester, heiratete einen kranken Mann, erlebte eine sehr schöne Zeit mit ihm, dann starb er nach sechs Jahren. In ihrem Beruf fühlte sie sie sich kompetent, wenn auch übergewissenhaft und immer in Angst, etwas könnte schiefgehen, und sie wäre dann schuld. Sie hörte mit 60 Jahren auf zu arbeiten, würde gerne die Kinder ihrer Nachbarin hüten, aber es könnte ihnen ja etwas passieren, und dann wäre sie schuld. Sie wundert sich ein wenig, dass diese Kindheitserfahrungen mit der Schuldzuschreibung ihres Vaters sie jetzt mehr beschäftigen als jemals in der langen Zeit ihres Lebens: Ist das jetzt vielleicht so, weil sie nicht mehr arbeitet, Zeit hat, diesen Dingen nachzuhängen?
    Eine Komplexepisode, die diesen Schuldkomplex illustriert, hat die Frau geschildert: der Streit der Eltern in der Nacht, die Schuldzuschreibungen des Vaters. Ein Problem in der Auseinandersetzung mit einer Komplexepisode kann darin bestehen, dass man auf die damalige Situation aus heutiger Sicht hinschaut und sie auch so bewertet. Das erklärt sich unter anderem auch daraus, dass sich diese Komplexepisoden sehr aktuell anfühlen, als hätte sich die belastende Erfahrung heute oder gestern ereignet. Es sind Erfahrungen, die wir nicht vergessen können. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns imaginativ in die Zeit zurückversetzen, in die wir die komplexhafte Erfahrung zeitlich einordnen und uns so vorstellen, wie wir damals ausgesehen haben, was uns bewegt hat, welche Menschen uns wichtig waren, was überhaupt damals wichtig war für uns.
    Die Frau versucht sich imaginativ in die Zeit als etwa Zwölfjährige zurückzuversetzen.
    Sie erinnert sich zunächst an ein Schulfoto aus dieser Zeit. Auf diesem Foto gefällt sie sich gut. Sie sieht nett aus, unauffällig, aber keinesfalls abstoßend: » Ich habe eine besondere Frisur, mit einer speziellen Spange. War ich eitel? War ich eitler als Mädchen in diesem Alter sind?«
    Dann: Sie liegt als Zwölfjährige im Bett, hört die Eltern streiten und der Vater weist im Gespräch mit der Mutter dem Kind eine Schuld zu, er spricht voll Hass und Wut – und sie, das Kind, ist schuld an dieser Wut.
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