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Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)

Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)

Titel: Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)
Autoren: Verena Kast
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sie nach menschlichem Ermessen nie in einem Warenhaus verloren gingen.
    Es geht beim Erzählen nicht um wahr oder falsch: Die Wahrheit liegt im Erzähler, in der Erzählerin.
     
    Ziel eines Lebensrückblicks und auch einer Lebensrückblickstherapie ist es, eine Geschichte erzählen zu können, mit der man besser leben kann 31 und die es erlaubt, sich mit der eigenen Geschichte zu versöhnen. Dazu gehört auch, sich an Geschichten wieder zu erinnern, die man vergessen hat, und die auch geeignet sein können, ein anderes, differenzierteres Licht auf das eigene Leben zu werfen.
    Ein älterer Mann, unversöhnt mit seinem längst verstorbenen Vater, spricht noch einmal über die vielen Ungerechtigkeiten, die er erlebt hatte. Dann fällt ihm aber plötzlich ein, dass er manchmal mit dem Vater ganz allein im Wald herumstreunte und dass beide dabei hingebungsvoll Melodien pfiffen. Mit dieser Erinnerung, die ihm früher nicht mehr zugänglich war, veränderte sich seine Grundstimmung: Sie wurde wärmer, liebevoller. Mit dieser veränderten Grundstimmung aber wurden ihm auch weitere gute Erinnerungen zugänglich. Dabei verschwindet das Quälende, das Schwierige nicht, es wird aber eingebettet in auch gute Erfahrungen. Manchmal ist es auch umgekehrt: Eine Frau spricht immer wieder von ihrem Vater, der sich für sie aufgeopfert hat, einem wunderbaren Mann. Diesem Maßstab für alle Beziehungen, nicht nur denen zu Männern, konnte eigentlich niemand genügen, und sie wurde nach dem Tod ihres Vaters sehr einsam. Sie erinnerte dann nicht nur die liebevollen Erfahrungen, die sie mit ihrem Vater geteilt hatte, sondern nach und nach erinnerte sie sich auch an Situationen, in denen der Vater ihre scheuen Versuche, auch andere Menschen interessant zu finden, kunstvoll unterbunden hatte. Er hatte sich nicht nur aufgeopfert, er hatte sie auch für sich selbst gebraucht und es ihr schwer gemacht, ihr eigenes Leben zu leben. Mit dieser Erkenntnis wurde ihr Vater zu einem Menschen mit guten und mit weniger guten Seiten. Sie musste nicht mehr jeden Menschen an ihm messen, was schließlich ihre Beziehungen zu anderen Menschen sehr verbesserte.
     
    Alte vergessene Geschichten wieder zu erinnern und diese zu einer Lebensgeschichte zu verbinden, die besser zu akzeptieren ist, gelingt uns dank des Episodengedächtnisses. Wenn wir erinnern, geht es um eine mentale Zeitreise, das Wiedererleben von Dingen, die in der Vergangenheit geschehen sind. Episodisches Erinnern ist für Tulving eine Art Imagination, bei der die Grenzen von Zeit und Raum überschritten werden können. In seiner Wahrnehmung ist es »ein System, das den Zeitpfeil zur Umkehr zwingt.« 32 An anderer Stelle schreibt er: »Es ist das einzige Gedächtnissystem, das es dem Menschen ermöglicht, vergangene Erlebnisse bewusst wieder zu erleben.« 33 Nur bei Menschen gibt es diese Form des Gedächtnisses. Wenn wir uns erinnern, versetzen wir uns in gewesene Situationen mit Gefühlen und Vorstellungen hinein – und so werden sie gegenwärtig. Das bedeutet aber auch, dass wir uns Vergangenes vergegenwärtigen und eine neue Einstellung dazu gewinnen können. Oder wir können uns einfach daran freuen. Erinnerungen sind ein großer Schatz. Sie sind ein wichtiger Aspekt unseres Lebens. Nur wir selber können uns berauben, indem wir unsere Erinnerungen nicht wertschätzen, unsere Emotionen so sehr kontrollieren, dass uns alles gleich gültig und damit auch gleichgültig wird, uns nichts mehr bedeutet.
     
    Dass Erinnerungen ein großer Schatz sind, zeigt sich bei den verschiedenen Erfahrungen von Verlust. Verlieren wir etwa Menschen durch den Tod, dann sind es die Erinnerungen an das gemeinsame Leben, die bleiben. Das Erinnern der gemeinsamen Geschichte, möglichst emotional, lässt die Beziehung noch einmal »auferstehen«. Diese Erinnerungen müssen nicht geopfert werden, auch wenn wir den dazu gehörenden Menschen verloren haben. Und so sind es gerade diese Erinnerungen, die uns erlauben, uns von einem verstorbenen Menschen abzulösen und uns allenfalls wieder auf das Leben einzulassen. 34 Indem wir emotional erinnern, können wir auch loslassen.

Angeleitete Biografiearbeit
    Je nachdem, welche Motivation hinter der Beschäftigung mit dem eigenen Leben steht, sieht auch der Lebensrückblick etwas anders aus. Wer sich historisch so korrekt als möglich mit dem eigenen Leben auseinandersetzen will, wird systematisch an das eigene Leben herangehen. Wer diese Unternehmung eher unter dem Aspekt
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