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Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)

Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)

Titel: Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)
Autoren: Verena Kast
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Schacter 25 ist der Ansicht, dass »unser Ich-Gefühl (und damit unsere Identität und unser Selbstwertgefühl, V.K.) entscheidend von der subjektiven Erfahrung der Erinnerung an unsere eigene Vergangenheit abhängt.« Das gibt uns die Erfahrung von Kontinuität und Kohärenz. Erzählend erzählen wir uns auch selbst unser Leben, stehen im Dialog mit uns selbst, der Welt und unserer Lebensgeschichte, verknüpfen Geschichten und verstehen uns als Menschen, die sich zwar verändern, aber immer auch die gleichen bleiben.
    Um sich zu erinnern, muss man sich keine große Mühe geben. Wir erinnern uns ständig; was immer wir erleben, lesen, sehen, hören, kann als Abrufreiz für Erfahrungen aus dem eigenen Leben benützt werden. Immer wieder fallen uns korrespondierende Erfahrungen oder ganz und gar gegenteilige Erfahrungen ein. So funktioniert unser autobiografisches Gedächtnis. Allerdings gibt es eine Einschränkung: Was gefühlsmäßig nicht bedeutsam ist, wird nicht erinnert.
    Manchmal weiß man nicht, ob man etwas einfach noch intellektuell weiß, oder ob man sich wirklich erinnert, sich also imaginativ wieder zurückversetzen kann in die »damalige« Situation. Was auch noch einen körperlich erfahrbaren Hintergrund hat, hilft in diesen Situationen, sich noch besser zu erinnern.
    Eine Bergtour, bei der man dank wunderbarer neuer Schuhe unter vielen Blasen litt, bleibt einem besser in Erinnerung als all die anderen ohne oder mit nur wenig Blasen.
     
    Wenn wir uns erinnern, geben wir uns meistens Mühe, dies akkurat zu tun, so genau wie möglich. Gelegentlich sagen wir: Das erinnere ich noch so genau, als wäre es damals gewesen. Ich sehe alles noch ganz genau vor mir. Gedächtnisforscher halten das aber eher für unwahrscheinlich. 26 In der Vorstellung ist die Situation zwar lebendig, genau, emotional betont – es ist uns gelungen, eine bestimmte Lebenssituation zu vergegenwärtigen. Aber ob sie sich wirklich so abgespielt hat, ist fraglich. Das gilt besonders dann, wenn wir so sicher sind, die Situation noch genau vor uns zu sehen. Unsere Erinnerungen sind, so sehr wir uns auch bemühen, nicht deckungsgleich mit den Erfahrungen, die wir damals gemacht haben. Erfahrungen werden grundsätzlich zu Erinnerungen. Wenn ich von einem Absturz in den Bergen spreche, dann erinnere ich mich an den Absturz, mache die Erfahrung aber nicht noch einmal. Ich kann mich zurückversetzen in die Situation, kann meine Gefühle, die ich hatte, zurückholen, aber jetzt weiß ich, dass nichts wirklich passiert ist – und das wusste ich damals nicht. Und das ist ein beachtlicher Unterschied. Auch ist diese eine Erinnerung eingebettet in ein Netz von vielen anderen Erinnerungen an überstandene Gefahren.
    Wir wissen, dass Erinnerungen verblassen, dass erst ein Foto, ein Video, die Erzählung eines anderen Menschen sie uns wieder zurückholen. Manchmal erinnern wir uns aber nicht, partout nicht. Es ist vergessen, blank. Tauschen wir uns mit anderen Menschen über gemeinsame Erfahrungen aus, so stellen wir fest, dass wir nicht alle dasselbe erinnern. Wir haben, für was immer uns geschieht, für was immer wir erfahren, eine selektive Wahrnehmung. Wir nehmen das wahr, was uns in der Situation besonders bedeutsam war, uns emotional berührt hat und was im Zusammenhang mit anderen wichtigen Erfahrungen steht. Wer damals schwanger war, wird Themen der Schwangerschaft erinnern, von anderen wird das Thema nur am Rande gestreift. Sie haben einen anderen emotionellen Bezug zu einer gemeinsamen Unternehmung gehabt. Unsere Erinnerung ist unser Ureigenstes, und es hat wenig Sinn, sich über Erinnerungen zu streiten. Es gibt da verschiedene Wahrheiten.
     
    Ein Mann wundert sich über sein Gedächtnis: »Als Schüler hatten wir ein Theaterstück geschrieben und es dann auch aufgeführt. Bei einer Klassenzusammenkunft sprach der Lehrer darüber. Einige unterhielten sich angeregt darüber, wussten noch die Handlung, die Rolle, die sie gespielt hatten. Einer sprach davon, wie wichtig es ihm gewesen sei, so eine tragende Rolle gespielt zu haben, es habe ihm ganz wesentlich geholfen, sein Selbstwertgefühl zu verbessern. Ein anderer sagte: Das stimmt doch gar nicht, du hattest doch nur eine ganz kleine Rolle. Ich hingegen … Fragende Blicke in die Runde. Zwei Mädchen, die mitgespielt hatten – so wenigstens sagten die anderen –, wussten gar nicht mehr, welche Rolle sie gespielt hatten, sie wussten hingegen genau, welche Kleider sie getragen hatten, und
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