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Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)

Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)

Titel: Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)
Autoren: Verena Kast
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Geschichte brachte ihn dazu, das Thema der Schwäche, das ja auch zu jedem Leben gehört, anzuerkennen.
     
    Geschichten sind emotional ganz unterschiedlich getönt: Einige Geschichten sind beschämend, problematisch, andere beglückend, wieder andere so schrecklich, dass wir sie gar nicht mehr erinnern wollen. Oft geht aber auch Gutes vergessen – und das ist schade.
    Soll der Lebensrückblick uns emotional berühren und uns auch unsere Emotionen verändern, müssen wir Geschichten erzählen, aber wir müssen wirklich erzählen. Bloße Informationen, wie wir sie etwa für einen geschriebenen Lebenslauf brauchen, genügen nicht. Gute Geschichten erzählen wir den Menschen, die gut zuhören können und interessiert sind an unseren Geschichten: die also nicht nur auf ein Stichwort warten, um dann ihre eigene Geschichte zu erzählen. Menschen, die gut zuhören, lassen Vorstellungen zu und fördern damit auch das vorstellungsbezogene Sprechen. »Stell dir vor, was mir passiert ist …« Damit leiten wir eine Geschichte ein und bitten den Zuhörer oder die Zuhörerin, sich etwas vorzustellen, sich die entsprechende Situation bildhaft, vielleicht wie einen Film, vorzustellen. Die Vorstellungskraft von beiden ist gefragt und damit werden Bilder in unserer Psyche und damit verbunden Gefühle geweckt – bei beiden. Es entsteht ein Erzählraum, den wir miteinander teilen. In diesem Raum können sich die Geschichten verändern und können auch neu bewertet werden.

Stellt euch vor …
    Unsere Erzählungen beginnen meistens mit der Aufforderung, sich eine Begebenheit vorzustellen. Stell dir vor! Stell dir bitte vor!
    Eine Gruppe von ehemaligen Berggängern und Berggängerinnen tauscht sich über ihre Erfahrungen in den Bergen aus. Es ging um Wetterumstürze, um gefährliche Besteigungen, alle versicherten sich wechselseitig, dass sie sportliche, mutige Menschen gewesen waren, damals am Berg.
    Und dann erzählte Rolf: » ….Stellt euch vor, dann waren wir im sehr tiefen Schnee oben in den Bergen, es stürmte, war neblig, und Hans (der Mann, der das Sagen hatte) fand, wir sollten jetzt nicht feige sein, sondern einmal etwas Männliches machen, wir sollten absteigen, obwohl vielleicht Lawinengefahr herrsche. Mir war angst und bang und ich fand, wir sollten in der Berghütte übernachten. Da stürzten sich alle auf mich, fanden, ich sei feig, ein halbes Mädchen – ein Angsthase. Es war ganz übel. Stellt euch vor, testosterongeschwängerte Atmosphäre, sechs Männer und ich. Alle anderen wollten absteigen – und ich weigerte mich. Sie gaben nach. Es war ein grauenhafter Abend. Ich sollte Schnee schmelzen für eine Suppe, ich war ja schuld – ich, dieser Feigling.« – Und da sagte eine Zuhörerin, die diese Geschichte zum ersten Mal hörte und noch ganz Ohr war: »Du warst doch kein Feigling, du warst der einzige mit Verantwortungsgefühl!« Und der Erzähler, sichtlich erfreut: »Das sagst du, weil du eine Frau bist!« Na ja, am anderen Tag war das Wetter besser und wir sind abgestiegen und konnten nicht den normalen Weg benützen, der war verschüttet. Aber die demütigenden Bemerkungen, die meine Bergkameraden gemacht hatten, die haben sie nicht zurückgenommen, die konnten sie nicht zurücknehmen. Sie murmelten nur etwas davon, dass es vielleicht doch nicht schlecht gewesen sei zu übernachten. Ich bin mit denen nie mehr in die Berge gegangen …«
    Und dann: »Es hat mir gut getan, dass du mich nicht feige gefunden hast. Du hast dir natürlich nicht vorstellen können, wie ängstlich ich war, wie ich gewinselt habe vor Angst. Es war schon übel.« Und die Zuhörerin: »Ich kann mir das gut vorstellen. Wenn so viele auf dich einreden, dann musst du ja deinen Standpunkt einbringen – und da ging es eben nicht mehr souverän.« Und er: »Das ist es gerade, ich hätte natürlich souverän sein wollen – ich will immer souverän sein. Aber ich bin ziemlich ängstlich. Das muss ich jetzt einfach auch zugeben.«
     
    Die Geschichte, die Rolf erzählte, ist eine Geschichte, die er immer wieder erzählt, eine Geschichte, die auf eine ihm wichtige zentrale Erfahrung verweist, eine Angstgeschichte und eine Geschichte der Demütigung. Angst und die damit verbundene Erfahrung, gedemütigt zu werden, sind Themen, die ihm zu schaffen machen. Und er erzählt die Geschichte besonders gerne dann, wenn die anderen über ihre vergangenen Heldentaten sprechen. Wir wissen nicht, ob sich die Geschichte wirklich so zugetragen hat, wie er sie
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