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Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)

Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)

Titel: Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)
Autoren: Verena Kast
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Locker erzählt er, dieses Problem habe sein Leben noch lang geprägt, dann sei er depressiv geworden, habe eine Behandlung gebraucht und habe da unter anderem gelernt, das Leben zu genießen. Er war der Einzige unter den »alten Maturanden«, der sich viel Zeit für ein lustvolles Hobby gönnte – und es wird noch mehr werden, sagt er. »Gerade, weil ich das alles verpasst habe, als ich jung war.« Die Erinnerungen an das Früher wecken Ideen, wie es denn später aussehen könnte: manchmal als eine geradlinige Fortsetzung dessen, wie man sich schon immer verhalten hatte, schon immer gewesen war oder aber als Wunsch, Verpasstes noch nachzuholen, noch Ausstehendes in das Leben hereinzuholen. Das kann zu erstaunlichen Neuanfängen führen – auch im höheren Alter.
     
    Alle Menschen erzählen Geschichten aus dem eigenen Leben, Geschichten über Vergangenes, Geschichten über Zukünftiges. Unsere Geschichten machen unsere Identität aus: In ihnen zeigt sich unser Gewordensein und mit ihnen zeigen wir anderen Menschen, wie wir geworden sind und wie wir gesehen werden wollen. Auf unser Gewordensein sind wir ein wenig stolz, freuen uns. Unsere Geschichten zeigen aber auch das Schwierige, das, was wir versäumt haben oder was wir einfach nicht gekonnt haben, mit dem wir uns weiter quälen oder uns damit versöhnen. Wir haben ein Gefühl für uns selbst: Wer wir sind, wer wir waren, wer wir sein könnten. Dieses Gefühl wird unter anderem belegt durch die Geschichten, die wir erzählen; dadurch wird unsere Identität 10 auch für andere Menschen sichtbar und wird von ihnen bestätigt. Meine Identität ist nie nur eine für mich ganz allein, sie wird auch von außen gespiegelt, bestätigt, in Frage gestellt. Die Erfahrung von Identität erschließt sich aus Beziehungen: Wir erzählen etwas von uns, das uns wichtig ist und jemand von außen muss diese Erzählung bestätigen oder auch leicht verändern. Erzählen wir, dass wir uns für feige halten, dann ist das eine Beschreibung eines Aspekts unserer Identität: Unsere Mitmenschen werden entweder bestätigen, dass sie uns auch als feige erleben – oder aber diese Zuschreibung nicht für korrekt halten. In den Geschichten, die wir erzählen, konstruieren wir einen wichtigen, weil mit anderen leicht zu teilenden, Aspekt unserer Identität. Es ist eine narrative Identität: Wir erzählen unsere Lebensgeschichte. Arbeit und Leistung, ein wichtiger Aspekt unseres Identitätserlebens, können in Geschichten vermittelt werden, müssen aber nicht. Auch ohne dass wir eine Geschichte erzählen, wissen wir selber, ob wir gerade gute Leistungen bringen können oder auch nicht, und unsere Mitmenschen können das auch sehen. Wir können aber auch darüber sprechen. Wenn wir aber nicht mehr im Erwerbsleben stehen, dann müssen wir, wollen wir diesen Aspekt der Identität betonen, erzählen, wie denn unser Arbeitsleben ausgesehen hat, wie wir uns darin bewegt haben. Unser Körper ist die Grundlage unserer Identität. Wir erzählen jedoch nicht ständig von unserem Körper: Er ist ja da, kann betrachtet werden. Dennoch können wir auch Geschichten über unseren Körper erzählen, meistens sprechen wir dann von den Störungen, oder wir verschweigen sie. Wenn immer es um Reflexion der Identität geht, auch darum, die Identität in ihrer Kontinuität zu sehen, erzählen wir Geschichten. Und wenn diese Geschichten zusammenhängen, dann haben wir das Gefühl, eine kohärente Identität zu haben.
    Erzählen wir einander eine Geschichte aus unserem Leben, dann wird nicht nur die Vergangenheit lebendig, wir selber werden dabei lebendig. Einander Geschichten zu erzählen wirkt belebend. Wir sprechen von unserer jetzigen Lebenssituation, vielleicht auch von einer vergangenen, eingebettet in eine zeitgeschichtliche Situation, in kulturelle Strömungen. Oder wir erzählen von einer tiefen Sehnsucht, einem Traum, den wir uns erfüllten oder eben auch nicht. Was wir erzählen, kommt uns vielleicht sogar banal vor – ist es aber nicht. Und plötzlich erzählen wir etwas, das wir gar nicht erzählen wollten. Ein junger Mann erzählt von einer Bergtour – überschwänglich – sehr stolz auf eine tolle Leistung. Man sieht ihm beim Erzählen an, dass er sich in seiner Vorstellung noch einmal auf dieser Tour befindet – und dann erzählt er plötzlich etwas von einem Schwächeanfall. Das wollte er eigentlich nicht erzählen, das hatte er noch nie erzählt. Das war doch so beschämend! Das Erzählen der
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