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Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht

Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht

Titel: Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht
Autoren: Dieter Moor
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Haarfestiger. Sie reißt die Augen auf,
     wie es Erwachsene tun, bevor sie Kleinkindern das große, große Geheimnis verraten. Dann platzt es aus ihr heraus: «Frischmilch!»
    Ich starre sie an wie eine Erscheinung, bin baff.
    Frau Widdel wird von einem echten Lachkrampf erfasst. Überwältigt, erobert, durchgeschüttelt. Sie haut sich die Hände auf
     die Schenkel. Krümmt sich unter Zwerchfellkrämpfen und prustet immer wieder «Frischmilch» und «O Gott, ich krieg keine Luft
     mehr» und «Schauen Sie nicht so, Herr Mohohoor».
    Es ist ansteckend. Sonja gluckst schon los, Helena stimmt ein, ich beginne hektisch zu atmen, kann aber das aufsteigende Lachen
     nicht unterdrücken. Es breitet sich über den Tisch aus in konzentrischen Kreisen, deren Mittelpunkt die sich windende Frau
     Widdel ist. Die Lachenden lachen über die Lachenden. Manche fragen lachend: «Warum lacht ihr denn?» Die anderen versuchen
     eine Erklärung, bringen aber vor Lachen nur unverständliches Gebrabbel hervor, was wiederum den nächsten Lachanfall hervorruft.
     «Sind jetzt alle bekloppt, oder was», kräht Krüpki, «Mensch, wat is in dem Drecksschnaps drinne?», schreit Teddy. Zur allgemeinen
     leichten Beruhigung trägt dann die wundersame Medizin aus den kleinen Fläschchen bei.
    «Nehmen Se’s mir nicht übel, Herr Moor.» Frau Widdel legt mir die Hand auf die Schulter. «Es kam einfach so über mich, ich
     weiß |294| auch nicht, warum, ich hab Se einfach plötzlich so vor mir gesehen, ganz selig mit Ihrer Frischmilch   …» Sie muss sich abwenden, der nächste Lachanfall steigt aus ihrem Bauch hoch, sie versucht tapfer, ihn niederzuringen, indem
     sie das Lachen nach innen leitet. Glucks, glucks, glucks, macht Frau Widdel. Es klingt nach Meerschweinchen. Ich schaue auf
     das Rückenteil ihrer rhythmisch zuckenden dunkelorangen Steppjacke. Ich würde ein Jahr meines Lebens geben für eine Kopie
     des Bildes, das Frau Widdel da in den Kopf gekommen ist. Ich reiche ihr von hinten einen Kümmerling. Sie dreht sich wieder
     zu mir, wischt sich die Lachtränen aus den Augen. «Prost, Herr Moor, auf Sie.» – «Auf Sie, Frau Widdel!» Wir kippen die Schnäpse
     ohne jedes Ritual. Aber schön synchron.
    Der Mann am Grill dreht die Musik voll auf. Es könnte schlimmer nicht kommen: «Lebt denn der alte Holzmichel noch, Holzmichel
     noch, Holzmichel noch», schallt es über den Anger und die Pfuhle durch das ganze Dorf. Und alle stimmen ein «Jaaaaaaaaaaa   … er lebt noch, lebt noch, lehebt noch   …»
    Das ist echt der absolute Höhepunkt. Diese Nummer ist so ziemlich das Schlimmste, was die deutsche Liedgutindustrie in den
     letzten tausend Jahren hervorgebracht hat. Überhaupt sind Lieder zum Mitgrölen das Allerhinterletzte. Wirklich. Sie bereiten
     mir, seit ich denken kann, physische Schmerzen und aktivieren spontan einen zwanghaften Fluchttrieb.
    Nicht aber jetzt! Im Gegenteil, ich gröle aus vollstem Herzen mit, so laut, dass ich fast mit Krüpki mithalten kann. Dieses
     «er lebt noch, lebt noch, lehebt noch   …» – das hat was. Wir singen es von Strophe zu Strophe trotziger. «Er lebt noch!» Das hat überraschende Kraft. Wir selbst
     werden zum alten Holzmichel, der sich nicht unterkriegen lässt. «Er LEBT noch, LEBT noch, LEBT noch.» Wir mit ihm. Für die
     Welt mögen wir nur alte Holzmichels sein, aber wir leben noch. Wir leben!

|295| Der Tag danach
    Der antike römische Historiker und Senator Tacitus beschrieb in seiner Schrift «Germania» folgende Sitte der alten Germanen:
     In regelmäßigen Abständen trafen sich die Clanchefs einer Gegend, um die aktuellen Probleme aus der Welt zu schaffen und anstehende
     Entscheidungen zu treffen. Diese «Sitzungen» begannen fließend, die Ersten kamen am frühen Nachmittag, die Nächsten am Abend
     und wieder andere erst zur Nacht. Bis man sich wieder trennte, vergingen nicht selten mehrere Tage und Nächte. Über den gesamten
     Zeitraum wurde nichts anderes gemacht als geredet und Met getrunken. Viel Met. Ungeheure Mengen von Met. Es gab keine Geschäftsordnung,
     keine Traktandenliste, kein wie auch immer vorgeschriebenes Prozedere. Es gab keinen Sitzungsleiter und nicht einen einzigen
     Mediator. Wenn zwei sich so uneins waren, dass sie mit Worten nicht mehr weiterkamen, zogen sie sich in den Wald zurück, droschen
     einander tüchtig auf die Birne und klärten auf diese Weise, wer recht hatte.
    Beschlüsse wurden gemeinschaftlich gefasst. Allerdings gab es weder
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