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Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht

Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht

Titel: Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht
Autoren: Dieter Moor
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eine Abstimmung mit Stimmauszählung noch ein Protokoll. |296| Schrift war in dieser Gegend noch unbekannt. Das große Palaver dauerte, bis auch die letzten beiden Teilnehmer sich der Wirkung
     des Alkohols und den Folgen des Schlafmangels ergeben mussten. Jene Beschlüsse, an die sich nach dem großen Schnarchen die
     Mehrzahl der Anwesenden erinnern konnte, galten als gut und wurden in die Tat umgesetzt. Nur was noch in Erinnerung war, zählte.
     Alles andere sollte für immer den gnädigen Nebeln des Vergessens anheimfallen.
    In dieser uralten Tradition hocke ich am Tag danach, in eine warme Jacke gekuschelt, unter dem jungfräulich hellgrünen Blätterdach
     des Kirschbaums. Ich lasse die Erinnerungen in mir hochsteigen. Das, was zählt.
    Ich sehe die immer neuen Anordnungen der Biertische vor mir. Zuerst standen sie vereinzelt. Dann wurden sie zu einem großen
     Tisch vereint, an dem alle noch Anwesenden Platz fanden. Diese Tafel wanderte sukzessive immer näher zum wärmenden Feuer,
     denn ein letzter Frost hatte sich aus dem sternenklaren Nachthimmel auf die Festwiese gesenkt.
    Viel wurde erzählt. Von vielen. Geschichten aus dem eigenen Leben und Geschichten, von denen man durch Dritte wusste. Ein
     schöner Wechsel von Zuhören und selber Erzählen. Irgendwann waren wir auf ein Häufchen von vielleicht einem Dutzend Menschen
     geschrumpft. Der harte Kern. Wir saßen inzwischen unmittelbar neben dem zu einem Glutberg zusammengesunkenen Feuer.
    Und irgendwann hat Helena den Befehl zum Löschen gegeben. Die Motorspritze wurde angeworfen, und ein kleiner Feuerwehrmann
     richtete den zischenden Strahl in die Glut. Es war der Junge, der Helenas Schutzoverall aufgefangen hatte. In seiner viel
     zu großen, schweren Ausrüstung hatte er bis jetzt gegen den Schlaf angekämpft, um diesen Moment erleben zu dürfen. Nun stand
     er, die |297| schwere Spritze mit seinen kleinen Händen umklammernd, und löschte. Dicht neben sich die schöne Helena, ihn mit leiser Stimme
     anleitend. Gischt und Asche gingen auf unseren Tisch nieder, wir ließen uns nicht vertreiben.
    Und irgendwann muss es doch nochmal so richtig kalt geworden sein. War das die legendäre Schafskälte? Nein, ich glaube, die
     ist erst im Frühsommer, wenn es mir recht in Erinnerung ist, und jetzt hatte ja gerade erst der Frühling begonnen, unser zweiter
     in Amerika   … Jedenfalls stellten wir staunend fest, dass die restlichen Kümmerlinge mit einer dünnen Eisschicht überzogen waren und vom
     Tisch regelrecht losgebrochen werden mussten.
    Und irgendwann sind die Fläschchen dann wohl doch alle leer gewesen. Jedenfalls brachen wir geschlossen auf. Einer hatte über
     das neue und das alte Feuerwehrauto erzählt und vorgeschlagen, Sonja und mir das alte, die Lizzi, zu zeigen. Also machten
     wir uns auf über die Dorfstraße Richtung Feuerwehrhaus. Helena voran, wir hinterher. Ich erinnere mich, dass wir gesungen
     haben beim Gehen. Russische Volkslieder. Hä? Ich kann doch kein Wort Russisch   … Dennoch haben wir russische Volkslieder gesungen. Es gibt so Nächte, da kann man sogar Dinge, die man nicht kann. Und Helena
     hat getanzt im Gehen, mitten auf der Straße.
    Ich erinnere mich an die Lizzi. Glänzend, mit poliertem Lack und viel Chrom, stand sie da und sah, im Gegensatz zu uns, edel
     und schön aus, sogar im hässlich kalten Neonlicht der Garage. Wir streichelten ihr ein bisschen über ihre Lackhaut, tätschelten
     ihr Blech, und die Männer haben erzählt, wie treu sie Dienst getan hat die ganzen Jahre. Schließlich mochten wir das Helle
     nicht länger ertragen, und es trieb uns wieder raus in die Dunkelheit, die schon ganz zaghaft dabei war, dem Morgenlicht zu
     weichen. Vor dem Feuerwehrhaus rauchten wir noch unsere letzten Zigaretten. Die weißen Wölkchen stiegen in den rosaroten Himmel,
     es fiel kaum |298| ein Wort, und dieses Zusammenstehen im Morgengrauen fühlte sich verdammt gut an. Dann schnippten wir die Kippen fort und gingen
     auseinander. Synchron. Ohne dass einer gesagt hätte: «So, jetzt aber   …»
    Wir gingen einfach voneinander weg. Und nahmen das Zusammensein mit uns mit.
    Ich habe geschlafen wie ein Stein, bin gar nicht mal so spät aufgewacht und habe kein bisschen Kater. Es geht mir gut, unter
     dem Kirschbaum in der flachen Vormittagssonne. Gleich werde ich reingehen zu meiner Sonja und sie mit einem frischen Kaffee
     wecken. Und dann werden wir uns wieder aufmachen zur Festwiese. Aufräumen helfen. Aber
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