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Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht

Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht

Titel: Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht
Autoren: Dieter Moor
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Einatmen, ausatmen, der Rest ergibt sich. Wunderbar. Neu.
    Apropos Wunder: Was macht eigentlich mein kleiner Schweizer? «Hallo, kleiner Schweizer, bist du noch da?», frage ich in mich
     hinein. Ganz leise höre ich ihn dozieren: «Das geht so nicht, dieses Fraternisieren mit fast wildfremden Menschen ist fahrlässig.
     Das kann böse Folgen haben, hä. Also eines sage ich an dieser Stelle ganz klar und deutlich: Mit dem, was da gerade stattfindet,
     hä, hab
ich
nichts zu tun, oder. Aber gerade ganz genau null, hä!»
    |291| Wie recht er doch hat, der kleine Schweizer, mit Amerika und den Menschen hier um diesen Tisch hat der wirklich rein gar nichts
     zu tun!
    «Ach, Herr Moor, Sie trinken hinter meinem Rücken mit meiner Stammkundschaft? Das geht ja mal gar nicht!» Frau Widdel! Wo
     kommt die denn jetzt plötzlich her? Ohne ihre ewige Kleiderschürze sieht sie aus wie Frau Widdels unternehmungslustige Schwester.
     Die jüngere Schwester.
    «Die dunkelorange, dezent taillierte Steppjacke kontrastiert provokant das gelbe Haar, während die roten Fingernägel den warmen
     Ton der Oberbekleidung elegant und zugleich konsequent fortführen und zur Vollendung bringen», höre ich Frau Widdels imaginären
     Styleberater flöten. Unweigerlich wandert mein Blick wieder abwärts, ich kann es gar nicht verhindern. Leggings? Lederfransen?
     Nahtstrümpfe mit Pailletten? Oder doch die gute alte Jeans? Nein: schwarze Wollhose mit Bügelfalte, schwarze Lacklederschuhe
     ohne Absatz. «Während wir in der oberen Körperhälfte die Erscheinung bewusst feminin und mit Mut zur Farbe ausgestaltet haben,
     wurde im Beinbereich Wert auf unauffällig dezente, aber elegante Schlichtheit gelegt, noch einmal raffiniert aufgefrischt
     durch die Wahl des glamourösen Oberleders der Fußbekleidung.»
    Ich erhebe mich. «Ach, Frau Widdel, guten Abend, darf ich Sie zu einem Schnäpschen einladen?»
    «Natürlich, immer her damit, der Abend ist noch jung!»
    «Moment, bin gleich wieder da, möchten Sie inzwischen   …» Ich deute einladend auf meinen jetzt leeren Platz.
    «Halt ich gerne für Sie warm, Herr Moor.»
    In Bayreuth hätte die Konversation nicht gepflegter durch die herbstliche Abendluft perlen können. Ich schreite Richtung Pavillon
     und stelle fest, dass die Schnäpse doch schon leichte Wirkung zeigen. Aber ich schaffe den Weg einigermaßen geradlinig. Ich |292| komme mit meinen 2 mal 25   Kümmerlingen gerade rechtzeitig zum Tisch zurück, um das Verhältnis zwischen leeren und vollen Fläschchen zugunsten der vollen
     umzudrehen.
    «Prost, Frau Widdel!»
    «Auf Ihr Wohl, Herr Moor, prost Frau Moor, zum Wohl allerseits.»
    Deckelchen abschrauben, Fläschchen auf den Tisch klopfen, Kopf in den Nacken, schütt, schluck, ahhhh. Ich krieg langsam Übung.
     Und stelle fest, so übel nach Medizin schmeckt das Zeug auch wieder nicht, eher nach flüssigem Lebkuchen.
    «Kann man sich dran gewöhnen, wa?», sagt Frau Widdel. Ich versuche mich zu erinnern, ob sie Kümmerlinge im Sortiment hat,
     habe aber kein Bild von Schnaps in ihrem Laden gespeichert.
    «Herr Moor, nur damit Se sich auf was freuen können. Um Mitternacht, da gibt es ganz was Gutes zu trinken, das ist hier Tradition,
     was sehr Spezielles, das dürfen Se auf gar keinen Fall verpassen.»
    «Wenn Sie das sagen, Frau Widdel, dann werde ich zur Stelle sein.»
    «Wäre echt schade, wenn Se das versäumen würden. Das kriegen Se nämlich sonst in ganz Amerika nicht. So was Leckeres. Nehmen
     wir noch einen?» Frau Widdel drückt mir einen Kümmerling in die Hand, reicht einen an Sonja weiter und schraubt den dritten
     für sich auf. «Erst mal die Grundlage schaffen, prost.» Schrauben, klopfen, schütten, schlucken. Nee, schmeckt weniger nach
     flüssigem Lebkuchen, eher nach Campari mit   … äh   … mit   … ach, ist ja egal. Jedenfalls nicht schlecht, das Zeug.
    «Was wird denn das sein, was es da um Mitternacht gibt, Frau Widdel?»
    «Na, raten Se doch ’n bisschen, Herr Moor!»
    «Keine Ahnung, Frau Widdel, wirklich, nicht den blassesten Schimmer.»
    |293| «Na, was gibt es nicht in Amerika, was Ihnen aber ganz dolle schmeckt?»
    «Wollen Sie es mir nicht einfach verraten, Frau Widdel?»
    «Och, ist der Mann schwer von Begriff, Frau Moor, wie halten Se das bloß aus mit dem? Wirklich keine einzige klitzekleine
     Idee, Herr Moor? Nein?»
    «Tut mir leid   …»
    Frau Widdel beugt sich vor, bis sich unsere Nasen fast berühren. Ich rieche Seife und
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