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Was wir Liebe nennen

Was wir Liebe nennen

Titel: Was wir Liebe nennen
Autoren: Jo Lendle
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unentrinnbar, und vielleicht galt das für alles andere auch.
    Dann waren sie darüber hinweg, über offener See, und gleich fehlte die Orientierung. Erst noch die Schiffe, aber in welche Richtung waren sie unterwegs? Bald nichts weiter als die unruhige Fläche des Meeres, und nicht einmal Gischt.
    Die Stewardess stand in dem schmalen Durchgang, den der Vorhang zur Businessclass ließ, die Arme verschränkt, dass man glauben konnte, sie würde sich langweilen. Wieder war das Tonsignal zu hören, das Lambert eben aus seinen Gedanken aufgeschreckt hatte, ein Dreiklang, der nun unablässig wiederholt wurde. Dann meldete sich der Pilot und fragte, ob womöglich einer der Passagiere eine Sicherheitsnadel dabeihabe oder eine Haarnadel, vielleicht eine der Damen? Gelächter aus den Sitzreihen. Lambert nahm eine Bewegung hinter der Stewardess wahr, doch weil ihr Oberkörper den Blick verstellte, war nicht zu sehen, was vor sich ging. Er meinte zu erkennen, dass jemand Stück für Stück die Kabinenwand abriss, aber konnte das sein? War dies etwas, das während eines Transatlantikfluges geschehen sollte?
    Die Stewardess drehte sich zur Seite, um selbst sehen zu können, was in ihrem Rücken geschah, und gab dabei für einen Moment den Blick frei auf einen Kerl im schwarzen T-Shirt, einen Schlüsselbund in der Hand, mit dem er ein Stück der Wandverkleidung aus der Halterung löste, um sie dann herunterzuziehen. Der ganze Boden war bereits mit den cremeweißen Plastikstreifen bedeckt. Stränge bunter Elektrokabel liefen kreuz und quer über die Wände, in allen Farben, in alle Richtungen.
    Halt!, Halt!, Halt! Irgendwo aus Lamberts Innerem drangen Warnsignale. Ganz offenbar versuchten sie ihm mitzuteilen, dass er sich in einer heillosen Situation befand – in einer weit heilloseren, bedrohlicheren, verwirrenderen, als unter gewöhnlichen Umständen zu tolerieren war. Lamberts Bewusstsein dagegen beschäftigte noch immer allein der Umstand, dass hinter der Flugzeugwand nicht gleich der Himmel begann.
    Er hätte es besser wissen können. Mit doppelten Böden kannte er sich aus. Lambert sah sich um: Weder Sascha oder Viola noch einer der anderen Passagiere nahmen von dem Vorfall Notiz. Die Stewardess hatte sich wieder zurückgedreht. Sie verschränkte die Arme unter ihren Brüsten und schaukelte dabei hin und her, als wiegte sie ein Kind. Vielleicht wollte sie sich selbst beruhigen. Hinter ihr war nun ein Zischen zu hören. Im Schlitz zwischen dem Vorhang und ihrer Uniformjacke erkannte Lambert, dass der Mann mittlerweile einen Feuerlöscher in der Hand hielt. Ganz offensichtlich war er im Begriff, die freigelegten Kabelstränge mit Löschschaum zu überziehen. Immer neue Ströme von Schaum quollen hervor und legten sich Schicht um Schicht auf die Kabel, bis die Wand so weiß war wie zuvor oder sogar noch etwas weißer.

4
    Lambert biss sich auf den Zeigefinger, dass es kaum mehr auszuhalten war. Vor dem Fenster noch immer die graue See, die rasch näher kam. Lambert dachte an das Wort Sinkflug, um nicht an Absturz denken zu müssen. Mit dem einen hatte er so wenig Erfahrung wie mit dem anderen. Abgesehen von der eigentlichen Angst störte ihn das Gefühl des Ausgeliefertseins. Er hatte die Dinge gern unter Kontrolle. Lambert begann aufzuzählen, wer ihn vermissen würde. Als er bei Andrea war, legte Sascha ihm die Hand auf den Arm. »Alles klar? Ist was?« Lambert nickte ihr zu.
    Wieder räu s perte sich der Pilot. Seine Stimme klang noch immer entsetzlich vergnügt, doch Lambert meinte zu hören, dass die Sorge dem Vergnügen schon auf den Fersen war. In der Businessclass habe es einige Rauchwolken gegeben, a few puffs of smoke, womöglich ein Kurzschluss, und auf einmal konnte Lambert es riechen, den Geruch verschmorter Bremsgummis, aber hatten Flugzeuge Bremsen?
    Die Unruhe griff rasch um sich, eilig sammelte die Stewardess die Frühstückstabletts ein. Weiter hinten begann ein Baby zu weinen, irgendwo sang jemand mit brüchiger Stimme ein Schlaflied.
    Viola hatte den Arm um Sascha gelegt, ihre Hand stieß gegen Lamberts Schulter. Er hätte sie ebenfalls gerne umarmt, beide, aber er wusste nicht, ob es ihnen recht war. Lambert beugte sich zu Sascha hinunter und sagte, wie leid ihm das alles tue, dann brach er ab, weil es für Nachrufe womöglich noch nicht an der Zeit war. Aber wann, wenn nicht
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