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Was wir Liebe nennen

Was wir Liebe nennen

Titel: Was wir Liebe nennen
Autoren: Jo Lendle
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fühlte. Sie beruhigte sich erst wieder, als Lambert beteuerte, sie aus einem Überschwang von Zuneigung geküsst zu haben. Dabei hatte sie recht, manchmal benahm sie sich kindisch.
    Jetzt, hier, in seinem Sitz unter der noch immer nicht erloschenen Aufforderung, den Sicherheitsgurt anzulegen, versuchte Lambert sich einzureden, er fliege über eine Landkarte. Aus der Luft jedenfalls wirkten die Konturen klar und schön, ganz wie im Atlas, nur durfte man den Blick nicht heben, wo sich im Westen der Horizont zu wölben begann. Kaum Dunst und darüber der offene Himmel, mit letzten Schattenrändern der Nacht. Das war beim besten Willen nicht der Rand einer Karte.
    Verblüfft stellte Lambert fest, weniger Angst zu haben als erwartet, er war eher erregt, ge s pannt darauf, was es zu erleben gab, und womöglich nicht einmal wegen des Fliegens. Die Vorfreude, das Lampenfieber, dazu die Aufregung der vergangenen Tage, die Verwandtschaft mit all den Großonkeln und -tanten, von denen er die meisten niemals zuvor gesehen hatte. Das Hinausschieben der Erschöpfung und wie er sich endlich eingestehen musste, längst heillos am Ende zu sein. Am offenen Grab, als die Schlange der Kondolierenden kein Ende nehmen wollte, hatte ihn der Wunsch übermannt, sich einfach zu seinem Vater zu legen.
    Es dauerte eine Weile, bis er merkte, warum es ihn am Knie kitzelte. Noch immer das Pferd.
    Hätte das Mädchen nicht gefragt, ob er weine, Lambert hätte es wohl nicht einmal gemerkt. Er wischte sich den Augenwinkel und schüttelte den Kopf. Sie hielt ihm die Hand hin. Lambert zog die Nase hoch und schlug ein. Etwas Festes steckte zwischen ihren Handflächen, es stach ihm in die Haut. Das Pferd. Er ließ es in seiner Faust verschwinden, niemand hatte die Übergabe gesehen.

3
    Â»Lambert?«
    Er schreckte auf. Die Stewardess stand neben ihm und strahlte ihn an.
    Lambert hatte nichts gegen Menschen, nicht prinzipiell. Aber er wusste gerne, woran er war. »Woher kennen Sie meinen Namen?«
    Â»Ich kann hellsehen.« Wieder zwinkerte sie ihm zu und tippte auf den Computerausdruck auf ihrem Wägelchen. »Sie sind die Laktoseunverträglichkeit.«
    Bevor er antworten konnte, reichte ihm die Stewardess ein Tablett und klappte sein Tischchen herunter. Lambert konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, warum er laktosefreies Essen bestellt haben sollte, aber dann fiel ihm ein, dass er beim Abschicken der Buchung ein komisches Gefühl gehabt hatte, als sei er in etwas hineingeraten, wohin er nicht gehörte.
    Nachdem alle drei Tee in ihren Plastikbechern hatten, bestand Sascha darauf, miteinander anzustoßen. Saschas Mutter hieß Viola. Ihr Ziel sei Chicoutimi. Auch beim dritten Versuch gelang es Lambert nicht, den Namen auszu s prechen.
    Â»Was ist das? Ein Kaugummi?«
    Â»Eine Stadt. Fünf Stunden nördlich von Montreal. Wir wohnen dort.«
    Â»Sorry. Nicht so gemeint.«
    Â»Schon gut. Es ist ein Indianername: Bis wo das Wasser tief ist. Der Ort liegt am oberen Ende eines Sees.«
    Â»Und was macht man in diesem … Chico?«
    Â»Flugsicherheit. Wir überwachen den gesamten Nordatlantik. Überwachen klingt vielleicht etwas gewaltig, wir koordinieren die Daten.«
    Â»Dann sind wir hier oben ja sicher.«
    Sie verzog den Mund. Auch bei ihr stand die Unterlippe ein wenig vor, was seltsam aussah, aber, wie Lambert zugeben musste, einladend wirkte.
    Sie seien in Münster gewesen, schaltete Sascha sich ein, um ihrem Großvater zu sagen, dass er noch einmal Großvater werde. Danach hätten sie einen Pferdehof besucht. Sascha erinnerte sich an jedes einzelne Tier und wusste von jedem den Namen. Lambert fragte nicht, warum der Großvater noch einmal Großvater wurde, und verkniff sich auch die Frage, ob sie am Flughafen erwartet wurden. Sie fragten ja auch nicht, ob ihn jemand zum Abflug begleitet hatte.
    Und er? Fahre direkt nach Montreal, eine Einladung. Zu einem Auftritt. Ein Auftritt? Ach, Kleinkunst.
    Der Druck auf seinen Ohren.
    Die Sonne ging hinter ihnen auf, manchmal das Aufleuchten und Verlöschen eines einzelnen Dachfensters in der Ferne, wenn sie durch den Lichtstrahl flogen, den es zurückwarf. Unter ihnen nun einige Inseln, die Kontur ihrer Umrisse tatsächlich nicht weniger scharf gezeichnet als auf einem Messtischblatt. Lambert fiel ein, dass Küstenlinien länger wurden, je näher man sie betrachtete, maßlos, endlos,
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