Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Was wir Liebe nennen

Was wir Liebe nennen

Titel: Was wir Liebe nennen
Autoren: Jo Lendle
Vom Netzwerk:
Gewohnheit. Als das Mädchen aufschaute, zeigte er ihr seine Handflächen. Sie waren leer. Dann begann er sich langsam die Hände zu reiben, von allen Seiten. Das Mädchen sah darauf wie auf zwei kleine fremde Wesen, die miteinander kämpften. Die Unterlippe hatte sie vorgeschoben, offenbar fühlte sie sich gestört. Gerade als sie sich wieder der S p ielzeugkiste zuwenden wollte, fuhr Lamberts rechte Hand in die Luft und schnappte zu.
    Er hatte tatsächlich etwas gefangen. Weiß blitzte es zwischen seinen Fingern. Das Mädchen schaute verblüfft, dann griff es nach der Hand, um nachzusehen, was darin war, aber Lambert gab seine Beute nicht preis. Einzeln bog das Mädchen ihm die Finger auf, bis er sich geschlagen gab.
    Auf seiner Handfläche lag ein kleines weißes Pferd. Aus Plastik, mit einem Kettchen im Maul. Lambert überreichte es ihr. Das Mädchen sah ihn an, als sie das Pferd in die Hand nahm, verblüfft, begeistert und mit einem Funken Furcht.
    Er stellte sich vor, und sie reichte ihm die freie linke Hand. Sie heiße Alexandra, aber er dürfe sie Sascha nennen. Lambert nickte. Er hoffte, dass Sascha sich an dem Aufdruck nicht störte, der sich in schwarzer Schrift über die Flanke des Pferdes zog: BESTATTUNGEN SCHIMMEL . Es war ein Schlüsselanhänger, ein Werbegeschenk. Er hatte es am Vortag überreicht bekommen und einfach in die Hosentasche gesteckt, als Erinnerung. Er hatte nicht vor, die Dienste des Instituts so bald wieder in An s pruch zu nehmen.
    Der Kapitän kündigte leichte Turbulenzen an. Die eben erst erloschenen Anschnallzeichen leuchteten auf. Nur die Stewardess ließ sich in ihren Vorbereitungen für die Ausgabe des Frühstücks nicht unterbrechen.
    Die Frau auf dem Gangplatz neben Sascha schlug ihr Buch zu. Ob sie einmal sehen dürfe. Das Mädchen hielt ihr das Pferd hin.
    Ãœber das Tier hinweg schaute die Frau ihn an. Blonde, ein wenig zusammengekniffene Augenbrauen, Hochsteckfrisur.
    Â»Wo haben Sie das denn her?«
    Â»Mein Vater wurde gestern beerdigt.«
    Â»Das tut mir leid.«
    Er nickte. Sascha ließ ihr neues Pferd die Gegend erkunden: Quer über ihren Schoß durfte es galoppieren, den einen Oberschenkel herauf, den anderen wieder hinunter. Am Ende machte es kurz Rast, schaute zur Seite und beugte sich dann vor, um ein wenig an Lamberts Knie zu grasen.
    Es war das erste Mal, dass er nach Nordamerika flog. Es war, wenn er ehrlich war, sein erster Flug überhaupt. Nicht dass er dem Fliegen aus dem Weg gegangen wäre, es hatte sich einfach nie ergeben. Schon als Kinder waren sie niemals weiter gefahren, als man ohne Rast mit dem Auto bewältigte. Einmal hatte die Autobahn sie an einem Flughafen vorbeigeführt, und ein startendes Flugzeug war langsam über sie hinweggeschwebt. Das Bild seines Vaters, wie er sich am Steuer des Wagens unter dem riesigen Schatten duckte.
    Draußen war es inzwischen heller geworden. Lambert wunderte sich, wie ruhig er war. Den Fensterplatz hatte er sich vorsorglich geben lassen, er hielt sich an den Dingen fest, die am Boden zu sehen waren: das Muster der Landschaft, Felder, Äcker, Ortschaften, ein Wald. Alles noch im Dämmer und unbestimmt wie die Flügelzeichnung einer Motte. Wo vom letzten Regen noch Wasser stand, zeigten sich verwaschene Flecken, die aussahen wie Schimmelpilze, sie griffen über die Grenzen der Felder hinaus, als schlummerte unter der Oberfläche eine andere, verborgene Aufteilung der Welt. Hier und da ein See, auch nicht unregelmäßiger geformt als die Dörfer. Dazwischen einzelne Linien, die er für Flüsse hielt, dabei hätten es ebenso gut Straßen sein können.
    Von hier oben verstand er, wie es für Andrea gewesen sein musste. Beim Wandern im Sommer hatten sie sich über die Karte gebeugt, jeder von seiner Seite, und Lambert hatte so lange die Landschaft der Zeichnung mit der Landschaft verglichen, in der sie standen, bis er wusste, wo es weiterging. Nur Andrea fand sich nicht zurecht. Sie drehte die Karte in alle Richtungen und stellte absurde Vermutungen über ihren Aufenthaltsort an. Sie nahm das Bild als etwas eigenes, nicht als Stellvertreter, ihr fehlte der Blick für Höhenlinien. Irgendwann hatte er die Karte einfach zusammengefaltet und ihr einen Kuss auf die Stirn gegeben. Was das denn jetzt solle, hatte Andrea gefragt, und es war zum Streit gekommen, weil sie sich wie ein Kind behandelt
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher