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Was wir Liebe nennen

Was wir Liebe nennen

Titel: Was wir Liebe nennen
Autoren: Jo Lendle
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Den hast du dir ausgedacht. Oder kommt der aus einem Märchen?«
    Â»Das ist ein braunes Pferd mit heller Mähne. Und hier«, sie zeigte auf die schwarze Linie im Fell über der Wirbelsäule, »ist der Aalstrich. Und hier das Schulterkreuz.«
    Â»Warum hast du mir das alles nicht schon früher gezeigt?«
    Â»Wir waren noch nie allein mit den Pferden. Ich könnte dir noch vieles beibringen.«
    Â»Ich fürchte, ich habe schon genug gelernt.«
    Â»Nämlich?«
    Â»Erinnerst du dich an den Schwanz der Eidechse? Vielleicht habe ich mich nur geteilt, um die Aufmerksamkeit einer Verfolgerin auf das zweite Stück zu lenken.«
    Â»Damit du selbst flüchten kannst.«
    Â»Mag sein. Hat es gezappelt?«
    Â»Kann man wohl sagen.«
    Dann saßen sie wieder nebeneinander am Ufer. Fe zog ihr nasses T-Shirt aus und wickelte es sich um den Kopf, um die Haare zu trocknen. Der See war noch immer glatt wie die Oberfläche einer riesigen Kristallkugel. Warum nur saß man mit Fe immerzu am Wasser?
    Lambert nahm den nächsten Stein und warf ihn mit aller Kraft in die Luft, so hoch er konnte. Er hätte ihn gern in eine Umlaufbahn um die Erde geschickt. Aber es half nichts, kein Ätherrauschen, kein Verschwinden, keine zerbrechenden S phärenkuppeln. Der Stein kam einfach wieder zurück. Ein paar Meter vom Ufer entfernt verschwand er mit kaum hörbarem Schnalzen im Wasser. Um die Stelle, wo er versunken war, breiteten sich kreisrunde Wellen aus, die rasch größer wurden.
    Â»Sieht aus wie eine Zielscheibe.« Fe bückte sich nach einem Kiesel und warf ihn hinterher. Wie bestürzend anmutig ihr Arm sich in der Bewegung streckte. Wieder sahen sie zu, wie der Stein in die Höhe stieg, langsamer wurde, in der Luft stehen zu bleiben schien, dann zu sinken begann und genau in der Mitte der Wasserringe einschlug.
    Eine neue Folge von Wellen breitete sich aus und erreichte mit einem kleinen Schwappen das Ufer.
    Â»Oder nein, keine Zielscheibe.«
    Â»Sondern?«
    Â»Das sind Jahresringe.«
    Lambert sah sie an. Ein seltsames Gefühl kroch seinen Rücken hinauf.
    Â»Von einem Wasserbaum? Könnte sein. Ja, du hast recht. Das ist es. Wir sitzen einfach hier und sehen zu, wie die Jahre vergehen.«
    Â»O Gott, wir haben alle Zeit der Welt. Wir machen sie uns einfach selbst.«
    Â»Und … was fangen wir damit an?«
    Fe sah ihm in die Augen und zuckte mit den Schultern. Wie schön sie war. Sie hob einen neuen Stein auf. Dann warf wieder Lambert, dann wieder Fe. So hielten sie die Zeit in Gang.
    Â»Wie schnell die Jahre vergehen.«
    Â»Furchtbar schnell.«
    Â»Was machen wir, wenn wir alt sind?«
    Lambert sah sie an. Er versuchte sich das alles zu merken, um es für immer in Erinnerung zu behalten: das Labyrinth ihrer Locken, das Schwarz in ihren Augen, als wäre dort immer noch Nacht, ihren Mund, der mal ängstlich aussah und mal zu lächeln schien, ohne dass ihre Lippen sich bewegten, das unerklärliche Muster ihrer Leberflecke – im Geist versuchte Lambert die Punkte zu verbinden, aber es fügte sich zu keinem Bild.
    Er sagte: »Dann fliege ich zurück.«
    Fe holte weit aus, zielte in die Luft und warf den nächsten Stein. »Es ist gut, dass du dich entschieden hast.«
    Â»Ich werde dich nicht vergessen. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich ein rotes Blinken. Das verrät mir, wo du bist.«
    Â»Und den Puls siehst du auch?«
    Â»Und die Unterhauttemperatur.«
    Â»Wie kommst du zum Flughafen?«
    Â»Was weiß ich. Zu Fuß. Oder mit einem dieser seltsamen Busse. Das schaffe ich schon. Es hat noch ein bisschen Zeit.«
    Â»Du kannst mit mir reiten. Wenn du willst. Ich muss ohnehin in die Richtung.«
    Irgendwann rückte Lambert näher an sie heran und legte den Kopf an ihren.
    Einige Jahresringe s päter drehte sie sich zu ihm und legte die Beine über seine Knie. Sie sahen sich an, aber keiner sagte ein Wort. Im Wasser vergingen die Jahre. Manchmal öffnete Fe den Mund und schloss ihn dann wieder. Von Zeit zu Zeit nahm einer von ihnen einen Stein und warf ihn hinauf in die Luft. Sie sahen zu, wie er emporschoss in den klaren Himmel, wie er langsamer wurde, verharrte, wie er kehrtmachte, fiel und hinunterstürzte aufs Wasser, wo in unerhörter Geschwindigkeit die Zeit verging.

1. Auflage
Copyright © 2013 by Deutsche Verlags-Anstalt, München,
in der Verlagsgruppe Random
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