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Was wir Liebe nennen

Was wir Liebe nennen

Titel: Was wir Liebe nennen
Autoren: Jo Lendle
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Übermaß an Heiligkeit, dem sie ausgesetzt sei, dieser Blick, mit dem Sebastian seine Wunden ertrug. Auf alle Fälle gehe es nicht weiter, sie könne nicht mehr. Und jeden Pfeil, den sie unter dem Firnis hervorhole, s püre sie im eigenen Fleisch.
    Lambert hatte sie abgeholt. Zu Hause wollte er ihr etwas Gutes tun und setzte einen Topf S paghetti auf. Andrea hockte vor ihrem Teller und stocherte so vorsichtig in den Nudeln, als wohnte darin ein kleines Lebewesen. Lambert war eingefallen, dass man, wenn es einem schlecht ging, Tee trinken sollte. Auf die Schnelle hatte er mit dem restlichen Nudelwasser einen Früchtetee aufgegossen, den Andrea so wenig anrührte wie das Essen. Lambert hatte in der Kirche angerufen und dem Pastor erklärt, dass jemand anders seinen Sebastian unter dem Dreck hervorholen müsse. Das Schweigen des Gottesmanns und wie er endlich hervorpresste, ihn frage auch keiner, wie es ihm gehe. Lambert hatte bald aufgelegt.
    In den folgenden Wochen redeten sie wenig. Wenn Andrea zum Rauchen auf den Balkon ging, stellte Lambert sich neben sie, damit der Abgrund sie nicht verführte. Wenn sie im Bett um sich schlug, legte er sich hinter sie und hielt ihre Arme, ohne ein Wort zu sagen. Mehr konnte er nicht tun. In seinen schlaflosen Nächten fragte er sich, warum es ihm nicht gelang, ihr eine Hilfe zu sein.
    Als dann Lamberts Vater im Sterben lag, hatte sie gesagt, jetzt sei es wohl an ihr zu helfen, und zum ersten Mal hatte er verstanden, dass er offenbar doch zu irgendetwas nütze gewesen war.
    Mittlerweile ging die Sonne auf. Nicht anders, als sie es seit Jahrmillionen tat. Niemand hielt die Erde in ihrem Kreisen auf, also drehte sie sich weiter. Dass der Übergang von Tag und Nacht von hier unten so scharf wirkte, war Zufall, eine subjektive Überhöhung seiner Situation. Es hatte sich so ergeben, dass er gerade jetzt gerade hier stand, im Übergang von Schatten und Licht, warum sollte man in die Knie gehen, nur weil man im Angesicht ihres Gleißens, beim S piel ihrer Farben die Lippen zusammenpresste. Ein Himmelskörper wurde sichtbar, mehr nicht, alles andere war Poesie. Einige Äußerlichkeiten veränderten sich, die Temperatur, die Beleuchtung, der Wind kam jetzt vom See, das war es auch schon. Wie viel leichter alles wäre, ohne die Empfindungen dabei.
    Wie ging das eigentlich, das Sterben? Einmal in ihrer schweren Zeit hatte Andrea ihr Zimmer verlassen und war zu ihm in die Küche gekommen. Lambert war gerade dabei gewesen, ein Ei zu trennen, für den Pudding, den es s päter geben sollte. Er hatte sie hinter sich ge s pürt und gleichzeitig auf der Rückseite der Packung gelesen, was zu tun war: das Abmessen, das Anrühren, das Aufkochen. Sie hatte ihm zugesehen und nach einer Weile einen Artikel auf die Arbeit s platte gelegt, in dem, wie Lambert der Überschrift entnahm, mögliche Todesarten beschrieben waren.
    Das Geräusch des Schneebesens laut, aber nicht so laut, dass es unmöglich gewesen wäre zu reden. Dennoch hatte er nichts gesagt, und nach einer Weile war sie schweigend verschwunden. Während er den Eischnee unterhob, hatte er den Artikel gelesen. Sie hatten nie ein Wort darüber verloren, und bald hatte sie sich ohnehin wieder gefangen.
    Was er noch in Erinnerung hatte: Vor dem Ertrinken würde man eine knappe Minute strampeln. Man schnappte nach Luft und machte mit den Armen eine Bewegung, als kletterte man auf einer Leiter in die Höhe. Aber es gab keine Leiter, und niemand stieg irgendwo hinauf. Was stattdessen geschah: Man ging unter.
    Einmal unter Wasser, würde er die Luft anhalten. Je nachdem, wie gut ihm das gelang, schenkte es einige Sekunden Leben. Einige sinnlose Sekunden. Dann würde er den ersten Schluck Wasser nehmen, sich verschlucken, husten und dabei weitere Flüssigkeit einatmen. Ein scharfes Brennen in der Brust, wenn das Wasser die Luftröhre hinunterrann, dann verschloss sich die Luftröhre, ein Reflex. Der Gasaustausch in der Lunge käme zum Erliegen, auf einmal ein unerwartet beglückendes Gefühl von Ruhe. Alle Bewegungen fänden ein Ende, und bald darauf folgte die Bewusstlosigkeit, aus der es kein Erwachen gab.
    Der Abdruck von Zähnen in seiner Hand. Hatte er die ganze Zeit hineingebissen? Lambert sah hinaus aufs Wasser und versuchte sich in Erinnerung zu rufen, wo Andrea auf der Beerdigung seines Vaters gewesen war. Hatte sie überhaupt teilgenommen?
    Es
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