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Was weiß der Richter von der Liebe

Was weiß der Richter von der Liebe

Titel: Was weiß der Richter von der Liebe
Autoren: Klaus Ungerer
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habe die aufgehoben – um zurückzukommen. Und das war dann so mit das Letzte, was der Vietnamese in seinem Leben zu sehen bekam: Herr Kibbel, der die Betonstufen zur Rampe wieder hochkeuchte. Sekunden später hatte der Vietnamese keinen Grund mehr unter den Füßen und schlug erst Meter tiefer wieder auf festem deutschen Betonboden auf. Über ihm stand Herr Kibbel, versuchte wohl abzugehen zunächst, besann sich, und telefonierte dann die Polizei an.
    Was war geschehen? Der kurzatmige, erdverwachsene Herr Kibbel, 168 Zentimeter à 110 Kilo, nötigt einem ein Staunen ab: Warum ging er wieder hoch, um sich der vietnamesischen Killerkatzezu stellen? Hätte man die Polizei nicht ein wenig eher hinzuziehen können? Fest steht: Der Vietnamese stand oberhalb von Herrn Kibbel. Und kurz drauf flog er. Wie mag das zugegangen sein?
    Folgt man Herrn Kibbel, so starb der Vietnamese einen traurigen Slapsticktod, als Opfer zu vieler Kung-Fu-Filme vielleicht: Wie Herr Kibbel so die Betontreppe hochächzte, die brennenden Fußabdrücke im Gesicht, da habe er bereits das nächst Kommende geahnt, welche Kampferfahrung ein 65-jähriger Marzahner auf dem Buckel haben mag, verbleibt unbekannt, den Vietnamesen aber habe er nun gut einzuschätzen verstanden. Ob der sich festgehalten habe am Handlauf, das könne er nicht mehr sagen, wohl aber dies: Zum nächsten Drehtritt habe der Vietnamese nun ausgeholt und durchgezogen, Alkohol beschwingt ja oft die Kampflust, und schwungvoll also sei nun ein Bein in die freie Luft vorgestoßen, da Herr Kibbel sich schnell geduckt habe – und so flog er dahin, der Vietnamese. Ob man das glauben kann?
    Wie gut, dass überall Technik ist, dass an allen Orten mit dem Schlimmsten gerechnet werden darf, zumal im Parkbereich und an der Rückfront von Marzahner Asia-Großmärkten. Hier haben Kameras vieles im Blick, und dass auch die Kampfhandlungen jener Mainacht festgehalten wurden, das herauszufinden benötigten die ermittelnden Beamten nur wenige Tage und einen guten Tipp aus Kamerakennerkreisen, und begierig nahmen sie ein Material in Augenschein von, nun ja, ernüchternder Qualität, und doch, im Kollegenkreise, bei äußerst hochauflösendem Bildschirm, welchen das LKA zur Verfügung hat, da erkannte ein Ermittlerschließlich mit einem Mal: Wie ein Kartoffelsack fliege der Geschädigte über die Schulter Herrn Kibbels! Hat also doch der Kampfrentner selber, beflügelt und erhitzt, von untenrum das Leichtgewicht gepackt und in die Tiefe gestürzt?
    Höchste Zeit fürs Gericht, den vorhandenen Kampffilm zu begutachten. Als gäbe es ein Abendmahl zu malen, scharen alle Parteien und Justizorgane sich um die preußisch korrekte Richterin herum, anmutig ergießt sich die blonde Staatsanwältin über schweres dunkles Holz, der faltige alte Fahrensmann von Verteidiger schiebt sich hinzu, die Schöffen lehnen sich wacker zurück, ja, selbst Herr Kibbel und sogar der Nebenklageanwalt leihen dem ein Auge, was die gefasste Richterin dann immerhin als »das Treppengeschehen« einzustufen bereit ist: Ganz oben am Bildrand, so viel verstehen auch wir, die wir nur die schwarze Rückseite des nicht ganz so gut auflösenden Fernsehers gewiesen bekommen, ganz oben am Bildrand scheint sich etwas zuzutragen: Da ist wohl mit Glück die Rampe im Blick, da scheinen ganz deutlich zwei unterschiedliche Personen zu agieren (denn was sollen wohl die beiden grauen Flecken sonst sein als Personen). Im etwas helleren Fleck meint man nach Aktenlage den Vietnamesen erkennen zu können, im dunkleren Herrn Kibbel. Dass die beiden Flecken einander nicht hold sind, macht man wohl auch aus. Dass der Filmgenuss nicht spannend sei, wird niemand behaupten wollen, gar zu gebannt sind die Blicke, gar zu engagiert gehen die Stimmen oft durcheinander: »Das da kann doch nicht die große Treppe sein«, wirft die allweil möglichst wach dreinblickende Staatsanwältin in den Raum, »Meines Erachtenssind wir jetzt an der kleinen Stahltreppe«, konzediert die Richterin, die Verteidigung aber fasst mit großer Reife und Gelassenheit zusammen: »Mir kommt sowieso alles komisch vor, weil ich nichts erkennen kann.« Dann starren sie wieder, Finger liegen konzentriert an Wangen, Brillenbügel versinken zwischen Lippen, Kugelschreiberkappen fahren sehr hübsche Nasenflügel ab, Fragen und noch mehr Fragen häufen sich an: Welche Treppe sehen wir? Welche Person? Torkelt sie oder ruckeln die Bilder? Immer mal versucht die Richterin, einen Konsens
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