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Was weiß der Richter von der Liebe

Was weiß der Richter von der Liebe

Titel: Was weiß der Richter von der Liebe
Autoren: Klaus Ungerer
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Fragetechnik (»Was heißt das, er war ruppig? Sie MÜSSEN das sagen!«), na gut, »indirekte Sticheleien« räumt sie noch ein. Niemals aber wird sie von der Verängstigung berichten, die der nette junge Hausmeister des »Forums Zehlendorf« (wo Dr. Karrenbauers Praxis sich bis zu ihrer Explosion befand) an Jessy beobachtet hat. Jessy hat nur den ganzen Niedergang aus der Halbdistanz beobachtet: die Kündigung der Praxis durch ihren Chef, den gescheiterten Versuch, sie zu verkaufen, seine Frustration und auch die Merkwürdigkeiten. Dass Herr Dr. etwa immer weiter Termine machen ließ, auch in den Juli hinein, da die Praxis schon längst dicht sein würde. Ansonsten fällt Jessy jetzt nichts weiter Spezielles ein überihren Chef, ach ja, er hat immer viel von seinen Autorennen erzählt oder der Kunstfliegerei.
    Der ehemalige Praxisnachbar Herr Dr. Koch, Name geändert, hat da schon imposantere Erinnerungen, angefangen mit der Wand zum Versorgungsschacht, die die Druckwelle herausgebrochen hat und wo man dann bis zum Keller des Forums Zehlendorf runtergucken konnte, die übrigen Verwüstungen mal ganz zu verschweigen: Die verbogene Innenarchitektur, das kaputte Porzellan, die Löschwasserschäden. Doch auch zwischenmenschliche Beschädigungen haben stattgefunden in den gut zehn Jahren, seit man zeitgleich die Praxen im Forum Zehlendorf bezog. Zunächst, sagt Herr Koch, sei man sich schnell nahe gekommen, sei auch beim Du gelandet, doch bald darauf hätten dann die Probleme begonnen: Ungefragt sei Dr. Karrenbauer in seine Praxis hereingekommen, um Kopien zu machen, ungefragt sei er sogar in Konsultationen hereingeplatzt. Und auch um eine rechte Wut war er nicht verlegen: Vor Personal und Patienten konnten wüste Tiraden aus ihm herausbrechen, auch bitterböse SMS erreichten Herrn Dr. Koch, nachdem er mal, ohne sich zuvor zu verabschieden, in den Urlaub gefahren war. Ja, und nachdem die Videoüberwachung Herrn Dr. Karrenbauer dabei erwischte, wie er – zum wiederholten Male wohl – das Auto seines Praxisnachbarn zerkratzte, und wie man wegen einer möglichen Anzeige in Diskurs geriet, da kam es dann auch zu der denkwürdigen brieflichen Mitteilung: Wenn Dr. Koch durch eine polizeiliche Anzeige die wirtschaftliche Existenz Dr. Karrenbauers gefährden werde, so werde er »eine Seite von mir kennenlernen,die Du nicht für möglich gehalten hast und die du nicht vergessen wirst«.
    Fakt allerdings ist, dass es eine solche Seite gar nicht gibt an Dr. Karrenbauer. Denn dass bei ihm grundsätzlich mit allem zu rechnen sei, darüber waren alle sich einig, die im Forum Zehlendorf einmal mit ihm zu tun hatten, und als es ans Niederlegen der Praxis und an den Auszug ging, da wusste es eine Mitarbeiterin von Dr. Koch schon im Voraus: »Da passiert noch was, bevor der geht.«
    Herr Dr. Karrenbauer selber, sechzig Jahre alt, Name geändert, war sich da gar nicht so sicher. Bis zum letzten Moment, so versichert er mit der schicksalsergebenen Präzision, die man von manchen Loriot-Figuren kennt, ging es in seinem kantigen Kopf für und wider, minütlich und sekündlich wurde der große Nibelungenentschluss verworfen und wieder neu bebrütet, der in Dr. Karrenbauers traurigem Sinn heraufgedämmert war und ihm hier nun dreieinhalb Jahre Haft einbringen wird. Dabei hatte der Abend jenes Freitags, an dem er sich von seiner Praxis verabschiedet hatte, eigentlich relativ banal vor dem Fernseher begonnen. Einsam aber wie er war, und aufgewühlt wie er war, tat Dr. Karrenbauer das, wovon ihm jeder andere Arzt abgeraten hätte: Er nahm eine Pille ein, zur Beruhigung, und als die ausblieb, warf er die nächste ein – insgesamt fünf oder sechs, schätzt Dr. Karrenbauer. Sie führten aber keinen Schlaf herbei und keine Entspannung, sie waren nie so stark wie die Gedanken, die herumgingen in Dr. Karrenbauers Kopf, und die unaufhaltsam auf einen Entschluss zukreisten: Wenn alles, was man in einem Jahrzehntgeschaffen hatte, sich so schnell beenden, einpacken und in einen Container einlagern ließ – dann sollte man sich doch, mitsamt seinem Werk, auch tunlichst selbst auslöschen.
    Dr. Karrenbauer erhob sich, und derweil er regelmäßig von Zweifeln angefallen wurde, führte sein Tun ihn doch immer in eine Richtung: dem Fanal zu. So wie große Heerführer sich im Moment der Niederlage zu entleiben belieben, so wie gerechte Menschen in einer ungerechten Welt ihren Körper den Flammen weihen, so wird auch Dr. Karrenbauer ein großes letztes
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