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Was weiß der Richter von der Liebe

Was weiß der Richter von der Liebe

Titel: Was weiß der Richter von der Liebe
Autoren: Klaus Ungerer
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Ausrufezeichen setzen, der begriffsstutzigen Menschheit zur Kenntnis. Solcherlei Gefühle durchströmen und festigen ihn, wie er nun in den Keller geht und von dort aus mehrere Benzinkanister zum Auto trägt, die dort zufällig, verehrtes Gericht!, auf ihre Bestimmung gewartet haben. Und Dr. Karrenbauer fährt durch den Juniabend als wäre es ein Arbeitsmorgen, er fährt durch eine invertierte Welt, die er nunmehr – was ihn betrifft – auslöschen wird.
    Er kommt am Forum Zehlendorf an, das nachts durch Rollgitter verschlossen ist, er hat Schlüssel. Er schafft die Benzinkanister in den vierten Stock hoch, in seine Praxis, die leergeräumten Räume seines Lebens und Vergehens, zu allen Seiten angrenzend an eine schnöde Welt voller Unverständnis. Ein letztes Mal lässt er den Blick aus dem Fenster schweifen auf den S-Bahnhof, wo eine Ansammlung junger Menschen ihr fröhliches Stimmengewirr ertönen lässt, und mehrmals noch überkommt ihn, verehrtes Gericht, der Gedanke: Ob es denn wirklich richtig sei, sich und der Praxis jetzt ein Ende zu setzen?
    Und so macht er sich, von periodischer Nachdenklichkeit unterbrochen, doch aber ans Werk: Verteilt das Benzin aus den beiden 20-Liter-Kanistern und dem einen Zehn-Liter-Kanister in den OP-Räumen der Praxis, im Flur, im persönlichen Bereich, der dort mal war. Klettert immer wieder, eine wacklige Angelegenheit!, auf den fahrbaren OP-Stuhl, um die Wassersprenkler an den Decken mit Alufolie zu umwickeln.
    Ist in der Mitte des Flurs. Stehend in einer Pfütze Benzin. Zieht seine Streichholzpackung aus der Tasche. Nimmt ein Streichholz zwischen die Finger. Und dann! Verehrtes Gericht! Das wird Ihnen jetzt bizarr vorkommen! Dann überkommt Dr. Karrenbauer in seinem Sinn voller Trauer, Wut, Diazepam und Benzindampf eine Anwandlung. Er will das Streichholz zurückstecken. Kommt aber irgendwie an die Reibefläche. Flamme! Er will sie noch ausdrücken, mit den Fingern ausdrücken. Aber die Flamme, sie brennt.

DER FLIEGENDE VIETNAMESE
    Beim Sturz von der Treppe hat der Geschädigte wohl auch seinen Namen verloren. Ganz am Anfang des Verfahrens ist der einmal dahergenuschelt worden, und auch die Ärztin, die sich den intubierten Körper zu dem Namen einmal näher angesehen hat, die zerschundene Haut, das leblose Gesicht, den eröffneten Schädel (welcher dem geschwollenen Hirn ein wenig den Druck nehmen sollte), sie hat den Namen zumindest irgendwo notiert und nennt ihn auch an der richtigen Stelle, ansonsten aber bleibt der Mann (dessen Stammhirn im Zuge der Schwellungen abgeklemmt wurde und der das Bewusstsein nicht mehr wiedererlangen sollte bis zu seinem Tod vier Tage nach dem Treppensturz) für uns ein Unbekannter, 177 Zentimeter lang, 68 Kilogramm schwer, 37 Jahre alt, von einer Nebenklage mit vertreten, die in persona hier nicht auftreten wird, aber einen Anwalt geschickt hat. Selbst der hat sich den Namen des Verblichenen nicht gar zu tief eingeprägt, auch er nennt ihn durchaus mal, wie eigentlich alle hier: »der Vietnamese«.
    Der Vietnamese starb an einem Tag im Mai 2006, und als er starb, wusste er selber seinen Namen schon länger nicht mehr, ja, vielleicht hätte er auch in der Tatnacht seine liebe Mühe gehabt, ihn auszusprechen: Getorkelt soll er sein, 2,5 Promille würde man ein paar Stunden später aus seinem Blutplasma erheben, und kurz vor seinem Sturz soll er auch noch schwer verständliche Dinge genuschelt haben, welche aber Herr Kibbel, Hausmeisterund nächtlicher Türenverschließer auf dem vietnamesisch dominierten Gelände des »International Trade Center« in Berlin-Marzahn, schlicht nicht verstehen konnte, denn er spricht kein Vietnamesisch. Und er hatte alle Hände voll zu tun, sich jener Kommunikationsform zu erwehren, die weltweit keine Dolmetscher braucht: Tritte und Schläge. Eben noch habe der Vietnamese schwankend zwischen den Autos gestanden, dann sei er urplötzlich und »flink wie eine Katze« über ihn hergefallen, habe ihn gewürgt, da oben auf der Laderampe des riesigen Lagergebäudes, habe ihn – Obwohl er den ja gar nicht kannte!, so Herr Kibbel – habe ihn mit einer raschen Trittabfolge bearbeitet; achtzig Prozent, sagt Herr Kibbel, von denen, die hier sind, machen ja irgendeine Kampfsportart. Folglich habe es bei ihm oben nur noch geleuchtet, und wie es zu einer Pause in den Streitigkeiten kam, da habe Herr Kibbel, 65 Jahre alt und ein kleiner Klops vor dem Herrn, unten nur seine Brille liegen sehen, da sei er die Treppe runter,
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