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Was macht der Fisch in meinem Ohr

Was macht der Fisch in meinem Ohr

Titel: Was macht der Fisch in meinem Ohr
Autoren: Silvia David u Morawetz Bellos
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denn es gab keines. Auch er hatte seine »Übersetzung« auf Englisch verfasst.
    Die Literaturgeschichten vieler Sprachen sind gespickt mit noch eindrucksvolleren Täuschungen. Die Briefe einer portugiesischen Nonne , 1669 in Paris erschienen, gaben sich als Übersetzung aus, obwohl ein Original niemals vorgelegt wurde. Dreihundert Jahre lang faszinierte der hochgeistige Text seine Leser, der aus dem Französischen in viele Sprachen übersetzt wurde – ins Deutsche von keinem Geringeren als Rainer Maria Rilke, der niemals auch nur ahnte, dass er verschaukelt worden war. In Wirklichkeit handelte es sich bei den Briefen um ein französisches Original, verfasst von Gabriel de Guilleragues, einem Freund Racines. Der Schwindel wurde erst 1954 aufgedeckt. 1
    Ein neueres Beispiel für französische Pseudo-Übersetzungen liefert Andreï Makine, dessen erste drei Romane, erschienen zwischen 1990 und 1995, als Übersetzungen aus dem Russischen ausgegeben wurden, angefertigt von einer (fiktiven) Françoise Bour. Im Jahr 1995 enthüllte Le Monde , dass sie französische Originale waren, und ebnete damit den Weg dafür, dass Makine mit seinem vierten Roman Das französische Testament den Prix Goncourt gewinnen konnte, der nur französischen Autoren zuerkannt wird.
    Sind Pseudo-Übersetzungen erst einmal in der Welt, entwickeln sie mitunter ein kurioses Eigenleben. In der Sowjetunion fand der Dichter Emmanuel Lifschitz, er könne sich freier ausdrücken, wenn er schreibe, als sei er jemand anders – James Clifford nämlich, ein Engländer, den es nicht gab. Nach ihrer Erstveröffentlichung in der Zeitschrift Batumski Rabotschi wurden die 23 angeblich aus dem Englischen übersetzten Gedichte in Moskau nachgedruckt und erschienen mit einer Kurzbiografie des Dichters, der seine List im letzten Satz sogar ausplauderte: »So hätte das Leben dieses englischen Dichters verlaufen sein können, der in meiner Phantasie zum Leben erwachte und sich in den Versen verwirklichte, deren Übersetzung ich Ihnen hier vorlege.« 2 Doch sogar Winke mit so dicken Zaunpfählen werden von Lesern übersehen, die nur zu gern glauben wollen, dass sie merken, was ein Original und was eine Übersetzung ist. Lifschitz nahm die Clifford-Gedichte in Sammlungen seiner eigenen Lyrik nicht auf, was der Grund dafür gewesen sein mag, dass James Clifford sich als bekannter englischer Dichter in literarischen Kreisen noch eines langen Lebens erfreute. Jewgeni Jewtuschenko beteuerte Lifschitz gegenüber einmal in einem Gespräch, er könne sich noch sehr gut an den melancholischen Engländer erinnern – ein echter Exzentriker. 3
    Beispiele für den umgekehrten Vorgang, Übersetzungen als eigene Werke auszugeben, sind vermutlich ebenso zahlreich. Bei drei Romanen des mehrsprachigen Schriftstellers und Diplomaten Romain Gary, angeblich französischen Ursprungs ( Lady L. , 1963, Les Mangeurs d’étoiles , 1966, und Adieu Gary Cooper , 1969), handelte es sich in Wahrheit um englische Romane, die auf Englisch (als Lady L , 1958, The Talent Scout , 1961, und The Ski Bum , 1965) veröffentlicht und dann in aller Stille von einem Lektor aus Garys französischem Verlag übersetzt worden waren. Wie viele Übersetzungen wurden wohl als Originale ausgegeben, ohne dass es jemand durchschaut hat? Es können unmöglich alle Täuschungen dieser Art bereits aufgedeckt worden sein.
    Es mag viele Gründe haben, wenn Autoren Originalwerke für Übersetzungen und eine Übersetzung für ein Original ausgeben wollen. Manchmal hilft es beim Überwinden der Zensur, manchmal dient es dem Ausprobieren einer neuen Identität. Es kann im Dienste individueller oder kollektiver Fantasien über nationale oder sprachliche Authentizität stehen oder geschieht nur deshalb, um einer vom Publikum gewünschten Exotik Genüge zu tun. Alle diese Täuschungsmanöver unterstreichen aber, dass man durch Lesen allein nicht erfährt, ob ein Werk ursprünglich in der Sprache geschrieben wurde, in der man es liest. Der Unterschied zwischen einer Übersetzung und einem Original fällt nicht in dieselbe Kategorie wie der Unterschied zwischen Instant- und Filterkaffee. Er ist mehr als nur Ansichtssache. Aber das nachzuweisen ist nicht so einfach.
    Die Ansicht, eine Übersetzung sei kein Ersatz für ein Original, ist auch aus einem anderen Grund kritikwürdig. Träfe diese Redensart zu, was bekämen Nutzer einer Übersetzung bei der Lektüre dann geboten? Nicht das Wahre offensichtlich. Sie bekämen aber nicht
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