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Was kostet die Welt

Titel: Was kostet die Welt
Autoren: Nagel
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abstrakter Scheiße umgeben und am Wochenende mit der Familie in irgendeinem Reichenghetto verschanzen, dort aber heimlich am Laptop weiterarbeiten. Oder Politiker werden und sich demütigen lassen von Boulevardpresse, Wahlvolk und Lobbyistenverbänden, oder Beamter in einer grauen Behörde, umgeben von Idioten und Besserwissern, sich als Lehrer piesacken lassen von zukünftigen Arbeitslosen, die altklug und lernresistent den Unterricht sabotieren, sich als Arzt jeden Tag mit Elend, Leid und Tod umgeben, sich als Sportler kaputtschinden für eine kurze Karriere, als Manager eines Unternehmens im Namen der Effizienz haufenweise Arbeiter in die Arbeitslosigkeit entlassen, man tut das ja auch nicht gerne, aber da sind einem die Hände gebunden, das ist die Logik des Marktes, so ist das nun mal, da kann man nichts für, man macht ja auch nur seinen Job.
    Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich jemals etwas werden wollte. Wie das schon klingt: »etwas werden«. Am Ende dieses Prozesses ist man dann »etwas«, ja super, und dann?
    Auch eingeschrieben habe ich mich damals nur meiner Mutter zuliebe, bin aber nach ein paar Vorlesungen nicht mehr hingegangen. Meine Kommilitonen haben mittlerweile wahrscheinlich längst fertigstudiert und eine öde Karriere bei Axel Springer, Rupert Murdoch oder sonst wem
eingeschlagen, wenn sie sich nicht gerade mehr schlecht als recht als Freelancer mit halbjournalistischen Auftragsarbeiten durchschlagen.
    Gibt es einen Beruf, der sich nicht über kurz oder lang als demütigend, einfältig, langweilig, verlogen, sinnlos, korrupt, ausbeuterisch, selbstausbeuterisch oder auf irgendeine andere Art schwere Schultern verursachend herausstellt?
    Das Leben als Schaffner scheint jedenfalls nicht gerade erfüllend zu sein.
    Ich wische mir den Schweiß von der Stirn, schultere meine Tasche und mache mich auf zum Service Center in der Empfangshalle. Meinen Zielort konnte ich auf dem Abfahrtplan nirgendwo entdecken.

    Auch der Intercity nach Koblenz ist ziemlich voll. Ich ergattere dennoch einen Sitzplatz, leider an einem Tisch, was die Beinfreiheit erheblich einschränkt. Neben mir sitzt Martin L. Gore von Depeche Mode, der auf wundersame Weise wieder neunzehn Jahre alt ist und mit seinem Handy deutschsprachigen Hip-Hop hört. Über Kopfhörer zwar, aber trotzdem das halbe Abteil beschallend. Irgendwer erzählt gerade hektisch nach Luft schnappend etwas über die Größe seines Schwanzes und behauptet, vom vielen Ficken schon eine Hornhaut auf der Eichel zu haben.
    Habe ich schon mal irgendwo gehört. Ich glaube, ich kenne sämtliche deutsche Hip-Hop-Platten in- und auswendig, weil im Radetzky im Laufe des Abends immer mindestens ein oder zwei Vollidioten am Tresen sitzen, die halbironisch und gackernd vermeintlich krasse Proll-Rap-Zitate durch den Raum krakeelen.

    Martin L. Gore klopft leise und taktlos den Beat auf seinen Schenkeln mit. Sein Blick geht ins Leere. Wahrscheinlich träumt er gerade von einer Karriere als Rapper und heißen Bitches im sexuellen Schlaraffenland einer perversen Nightlinerparty. Hoffentlich sahnt er sich nicht gleich in die Unterhose.
    Uns gegenüber sitzt ein älteres Ehepaar. Sie reden fast nichts. Wenn, dann sind es nur kurze genuschelte Laute.
    Â»Mähihahuho?«
    Â»Namanama.«
    Â»Mahu.«
    Es scheint eine Art Spezialsprache aus codierten Lauten zu sein, in dreiundvierzig Jahren Ehe entwickelt und auf das Nötigste runtergeschraubt. Zur groben Verständigung reicht es, mehr erwartet man sowieso nicht mehr, denn für alles darüber hinaus ist der Fernseher zuständig.
    Der Mann blickt aus dem Fenster. Seine Kleidung hat das gleiche Blau wie der Sitz. Lange weiße Haare wachsen ihm aus den Ohren. Typ Hobby-Imker.
    Die Frau blättert in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Frau mit Herz . Dabei befördert sie aus einer unsichtbaren Tasche unter dem Sitz schier endlose Mengen an Verpflegung auf den Tisch. Tupperdosen voller belegter Brote, Saft, Obst und Schokolade. Schließlich kramt sie sogar eine Thermoskanne sowie zwei Plastikbecher hervor und gießt sich und ihrem Mann dampfenden Kaffee ein.
    Am liebsten würde ich sie um einen Kaffee anschnorren. Stattdessen kaufe ich einen bei der Gewinnerin des Petra-Pau-Lookalike-Contests, die eine mobile Snackbar durch den Zug schiebt. Zwei Euro siebzig. Die Frau gegenüber sieht mich mitleidig an.
    Ich ziehe einen widerlich
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