Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Was geschah mit Mara Dyer?: Roman (German Edition)

Was geschah mit Mara Dyer?: Roman (German Edition)

Titel: Was geschah mit Mara Dyer?: Roman (German Edition)
Autoren: Michelle Hodkin
Vom Netzwerk:
Stunde hatte er noch Scherze gemacht, aber nun hatten ihn die Schmerzmittel wieder in Schlaf versetzt. Meine Mutter, Daniel, Joseph und Noah kauerten um das Bett.
    Ich hielt mich im Hintergrund. Es gab keinen Platz für mich.
    Ich war noch nie Zeuge gewesen von jenem äußersten Moment, in dem meine Gedanken zu Taten wurden. Gestern hatte ich das Chaos – das ich gewollt hatte – zum ersten Mal miterlebt und hilflos danebengestanden, während das Blut meines Vaters über die weißen Marmorstufen geflossen war. Eine trauernde Mutter wurde verhaftet, ihrer zerbrochenen Familie weggenommen, um hinter Schloss und Riegel gesperrt zu werden. Dabei war sie für niemanden eine Gefahr.
    Ich dagegen war für alle eine Gefahr.
    Ein Arzt steckte den Kopf ins Zimmer. »Mrs Dyer? Kann ich kurz mit Ihnen sprechen?«
    Meine Mutter stand auf und strich sich die Haare hinter das Ohr. Sie hatte die Nacht im Krankenhaus verbracht, aber sie sah aus, als seien es tausend Jahre gewesen. Sie kam zur Tür, neben der ich stand, ging an mir vorbei und streifte dabei kurz meine Hand. Ich zuckte zusammen.
    Die Worte des Arztes drangen durch den Türspalt. Ich lauschte.
    »Ich muss Ihnen sagen, Mrs Dyer, dass Ihr Mann ein wahrer Glückspilz ist.«
    »Dann wird er also wieder gesund?« Die Stimme meiner Mutter war aufs Äußerste gespannt. Mir kamen die Tränen.
    »Er kommt wieder auf die Beine. Aber es ist ein Wunder, dass er auf dem Weg hierher nicht verblutet ist«, sagte der Arzt.
    Ein Schluchzen entwich der Kehle meiner Mutter.
    »Ich habe so etwas in all meinen Jahren als Arzt noch nicht erlebt.«
    Mein Blick huschte zu Noah hinüber. Mit Ringen unter den Augen und düsterem Blick saß er neben Joseph und starrte meinen Vater an.
    »Wann kann er wieder nach Hause?«, fragte meine Mutter.
    »In ein paar Tagen. Er erholt sich bestens von der Schusswunde und wir behalten ihn eigentlich nur zur Beobachtung da. Um sicherzugehen, dass sich nichts entzündet und die Heilung weiter voranschreitet. Wie ich schon sagte, er ist ein wahrer Glückspilz.«
    »Und Mr Lassiter?«
    Der Arzt senkte die Stimme. »Er ist immer noch bewusstlos, aber vermutlich hat er gravierende Hirnschädigungen davongetragen. Er wird vielleicht nicht mehr aufwachen.«
    »Vielen Dank, Dr. Tasker.« Meine Mutter huschte wieder ins Zimmer und eilte ans Bett meines Vaters. Ich sah zu, wie sie nahtlos in das kleine Gemälde zurückglitt, in das sie gehörte.
    Noch einmal betrachtete ich meine Familie. Ich kannte jede Lachfalte im Gesicht meiner Mutter, jedes Lächeln von Joseph und jede Veränderung im Ausdruck von Daniels Augen. Ich betrachtete auch meinen Vater – den Mann, der mir das Fahrradfahren beigebracht und mich aufgefangen hatte, als ich zu ängstlich gewesen war, um ins tiefe Ende des Schwimmbeckens zu springen. Das Gesicht, das ich liebte. Das Gesicht, das ich verraten hatte.
    Und dann war da Noah. Der Junge, der meinen Vater geheilt hatte, aber das Gleiche nicht mit mir tun konnte. Obwohl er es versucht hatte. Das wusste ich jetzt. Noah war der, auf den ich, ohne es zu wissen, immer gewartet hatte, aber ich hatte mich entschieden, ihn loszulassen. Und es war die falsche Entscheidung gewesen.
    Alle meine Entscheidungen waren falsch gewesen. Alles, was ich anfasste, würde ich zerstören. Wenn ich blieb, konnte es beim nächsten Mal Joseph, Daniel, meine Mutter oder Noah treffen. Doch ich konnte nicht einfach so verschwinden. Meine Eltern verfügten über die Mittel, mich innerhalb von Stunden wieder aufzufinden.
    In diesem Moment schniefte meine Mutter und erregte meine Aufmerksamkeit. Da fiel mir ein, dass ich es ihr erzählen könnte. Wenn ich ihr die Wahrheit sagte über das, was ich getan hatte, mit Mabels Besitzer, Morales und in den Sümpfen der Everglades, würde sie mich mit Sicherheit einweisen lassen.
    Aber war eine psychiatrische Klinik wirklich der Platz, an den ich gehörte? Ich kannte meine Eltern. Sie würden dafür sorgen, dass ich an einen Ort kam, an dem man Kunsttherapie und Yoga anbot und endlose Gespräche über meine Gefühle. Aber in Wirklichkeit war ich nicht verrückt. Ich war kriminell.
    Und mit einem Mal wusste ich, wohin ich gehen musste.
    Ich sah sie alle noch einmal an und verabschiedete mich im Stillen.
    Genau in dem Moment, als Noah sich zu mir umwandte, huschte ich aus dem Zimmer meines Vaters. Ich schlängelte mich durch die Gänge, umlief die Krankenschwestern und Pfleger und passierte das Wartezimmer, in dem sich immer noch
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher