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Was die Toten wissen

Was die Toten wissen

Titel: Was die Toten wissen
Autoren: Laura Lippman
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sollte, dass es einen Ausweg geben müsste, erzählte ihr Stan Dunham, dass es für sie kein Zuhause mehr gab. Dass ihre Eltern sich getrennt hätten und weggezogen seien. Ihr Vater war ein Loser, ihre Mutter eine Ehebrecherin. Außerdem hatte sie sich mitschuldig gemacht, als jemand, der ein Verbrechen gedeckt hatte, und sie würde ins Gefängnis kommen, wenn sie damit herausrückte. »Ich war mal bei der Polizei«, sagte er. »Ich weiß, was bei der Ermittlung passiert. Bei uns bist du besser dran.«
    Es war ihr nicht entgangen, dass die Dunhams genau die Art von Familie waren, nach der sie sich in den letzten Jahren gesehnt hatte. Normal hätte sie es genannt, mit einem Vater, der einer richtigen Arbeit nachging, und einer Mutter, die zu Hause blieb und backte und bunte Schürzen über den Kleidern trug. Irene Dunham schien tatsächlich mehr Schürzen als Kleider zu haben, und sie backte jeden Tag. Ihr Mürbeteig war berühmt, wie Irene ihr voller Stolz mitteilte, auf diese selbstgefällige Weise, die Sunny gar nicht abkonnte. Aber der Mürbeteig, egal, wie viele Preise er bereits gewonnen hatte, war staubtrocken in Sunnys Mund, und sie brachte nicht mal ein Stück von dem Kuchen hinunter. Irene schien sich nicht viel aus Sunny zu machen, gab ihr die
Schuld an allem, was geschehen war, und hielt zu ihrem Sohn, ganz gleich, was er tat.
    Als Sunny älter wurde, versuchte sie hin und wieder, Tony zurückzuweisen, wenn er Sex haben wollte, und er fing an, sie zu schlagen, mal ein blaues Auge, mal ein ausgerenkter Kiefer. Er hieb ihr so fest in den Magen, dass sie dachte, sie würde nie wieder Luft bekommen. Und das eine Mal, beim letzten Mal, hätte er sie fast umgebracht. Das war zugegebenermaßen, nachdem sie ihm mit dem Schürhaken des Wohnzimmerkamins eins übergezogen hatte, mit demselben Schürhaken, den sie dazu benutzt hatte, Irenes geliebten Puppen die Porzellanköpfe zu zertrümmern.
    Das war in ihrer offiziellen Hochzeitsnacht gewesen.
    Es war fast Mitternacht, und die Eltern schliefen bereits wie gewöhnlich, aber diesmal konnten sie die Geräusche aus Tonys Zimmer nicht ignorieren. Irene Dunham war sofort zu ihrem Sohn geeilt, obwohl der nur einen blutenden roten Striemen auf der Wange hatte, der einzige Streich, der ihr gelungen war, bevor er ihr den Schürhaken entrissen und sie verprügelt und getreten hatte. Stan Dunham war allerdings auf sie zugegangen, und in dem Augenblick, in dem er ihr die Hand reichte, trafen sich ihre Blicke, und Sunny erkannte, dass er Bescheid wusste, es schon immer gewusst hatte. Er hatte sofort verstanden, dass sein Sohn Heather umgebracht hatte, dass ihr Tod kein Unfall gewesen war. Sie war nicht gestürzt und hatte sich den Kopf aufgeschlagen. Tony hatte sie auf den Fußboden geworfen und sie so bearbeitet, dass er ihr den Kopf zerschmetterte. Warum? Wer wusste das schon? Er war gewalttätig, frustriert. Heather war ein vorlautes kleines Mädchen, das ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte. Das allein reichte vielleicht bereits aus als Grund. Vielleicht reichte auch kein einziger Grund, für das, was er getan hatte.

    »Du musst hier weg«, auch wenn seine Familie es als Bestrafung auffasste, als Verbannung, wusste sie doch, dass er versuchte, sie zu retten. Am nächsten Tag hatte er ihr einen neuen Namen besorgt, hatte ihr beigebracht, wie man in die Rolle eines kleinen, toten Mädchens schlüpfte. »Es sollte jemand sein, der ungefähr zur selben Zeit wie du geboren wurde und gestorben ist, bevor man ihr einen Sozialversicherungsausweis ausstellen konnte, danach suchst du.« Er kaufte ihr eine Busfahrkarte und sagte ihr, er sei immer für sie da, und wenn man eins von Stan Dunham mit Sicherheit sagen konnte, dann das: dass er zu seinem Wort stand. Mit fünfundzwanzig beschloss sie, dass sie Auto fahren lernen wollte, und er kam an den Wochenenden nach Virginia runter und fuhr geduldig mit ihr über die leeren Schulparkplätze. Er bezahlte ihr die Ausbildung zur Computerfachfrau, damit sie sich einen Job als Informatikerin suchen konnte. Als Irene starb und Stan sich nicht mehr um ihre missgünstige Überwachung zu kümmern brauchte, legte er für Sunny Geld an. Es war nicht sehr viel, aber immerhin konnte sie damit die Raten für den Wagen abbezahlen und den Rest auf ihr Sparbuch einzahlen. Falls der Immobilienmarkt sich jemals wieder erholte, wollte sie sich damit eine Eigentumswohnung kaufen.
    Erst als vor einer Woche Penelope Jackson bei ihr aufkreuzte,
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