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Was die Toten wissen

Was die Toten wissen

Titel: Was die Toten wissen
Autoren: Laura Lippman
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als der Bus in ein Schlagloch fuhr und sie sich die Hüfte an einem der Sitze stieß, weil sie die Bücher vor sich hertrug. Aber Tony lachte sie nicht aus oder zog sie auf deshalb. »Verzeihen Sie, Mylady«, sagte er. »Ich werde ab jetzt darauf achten, dass so etwas nicht mehr vorkommt.«
    Ein anderes Mal – sie sah ihn selten mehr als zwei-, dreimal im Monat -, da fragte er sie: »Magst du den Song? Er heißt ›Lonely Girl‹. Er erinnert mich an dich.«
    »Wirklich?« Sie war sich nicht sicher, ob ihr der Song gefiel, aber sie hörte genau zu, besonders bei der letzten Strophe, wo es um den »Lonely Boy« ging. Bedeutete das etwa – aber sie senkte den Blick und starrte auf ihren blauen Schulordner. Die anderen Mädchen kritzelten die Namen dessen, in den sie verliebt waren, vornedrauf, aber das hatte sie sich nie getraut. Ein paar Wochen später traute sie sich, ein winziges »TD« in die rechte untere Ecke zu malen. »Wofür steht das denn?«, wollte Heather, die neugierige Heather, die immer herumschnüffelnde Heather wissen. »Trau Dich«, sagte Sunny. Später verlieh sie den Initialen dreidimensionale Formen, wie sie es in Geometrie gelernt hatten.

    Nach und nach erzählte Tony immer mehr von sich. Er wäre am liebsten als Soldat nach Vietnam gegangen, aber sehr zu seiner Enttäuschung und zur Erleichterung seiner Mutter wollte ihn die Armee nicht. Es war Sunny neu, dass es tatsächlich Menschen gab, die freiwillig in den Krieg ziehen wollten. Tony hatte eine Herzschwäche oder so etwas, Mitralklappenprolaps. Sie konnte nicht glauben, dass er was am Herzen hatte. Seine Haare standen ab wie Federn, die er oft mit einer kleinen Bürste aus der Hosentasche seiner Jeans nach hinten striegelte, und er trug ein Goldkettchen. Er rauchte Pall Malls, aber erst nachdem alle anderen Kinder ausgestiegen waren. »Verpetz mich nicht«, sagte er und zwinkerte ihr im Rückspiegel zu. »Du bist hübsch. Hat dir das schon mal jemand gesagt? Du solltest die Haare lang tragen. Aber du bist auch so schon ziemlich süß.«
    The wheels on the bus went round and round.
    »Ich fände es wirklich schön, wenn wir mehr Zeit zusammen verbringen, richtig was zusammen machen könnten, nicht nur immer diese Busfahrten. Wäre es nicht schön, wenn wir uns irgendwo alleine treffen könnten?« Sie konnte sich das durchaus vorstellen, wusste aber nicht, wie man es in die Wege leitete. Ihre Eltern brauchte sie gar nicht erst zu fragen, ganz egal, wie offen und liberal sie sich gaben, sie würden sie nie einen 23-jährigen Busfahrer treffen lassen. Sie war sich allerdings nicht sicher, was sie mehr daran stören würde, das Dreiundzwanzigjährig oder der Busfahrer oder die Vietnam-Geschichte.
    Irgendwann sagte Tony dann, dass er sie heiraten wolle. Wenn sie ihn samstags in der Mall treffen würde, könnten sie zusammen nach Elkton fahren, zu der kleinen Kapelle, wo die Leute aus New York heirateten, weil man dort einfach so an Ort und Stelle getraut wurde. Nein, sagte sie, das meine er nicht im Ernst. »Doch, völlig ernst. Du bist so hübsch, Sunny. Wer wollte dich nicht heiraten?« Sie erinnerte sich daran, dass ihre Mutter, ihre richtige, mit siebzehn weggelaufen war, um ihre wahre Liebe zu heiraten, Sunnys richtigen Vater, und heute
wurde man noch schneller erwachsen. Sie hörte das ständig von ihren Eltern. Die Kinder werden so schnell erwachsen heutzutage .
    Als sie ihn das nächste Mal sah, am 23. März, sagte sie zu, ja, sie würde ihn treffen. Und nun, nur sechs Tage später, fuhr sie wieder mit einem Bus, um ihn zu treffen. Heute Abend würde sie in die Flitterwochen fahren. Sie zitterte ein wenig bei dem Gedanken. Sie hatten nie Gelegenheit zu mehr als einem Kuss und ein klein bisschen mehr gehabt, aber das allein schon hatte alles in ihr durcheinandergebracht. Tonys Vater kannte den Fahrplan zu gut, fragte ihn aus, wenn er später nach Hause kam, schnüffelte im Bus herum und fragte ihn, ob er geraucht habe. Es war schon komisch, dass Tony als Sohn des Mannes, dem das Busunternehmen gehörte, keine Vorteile hatte, ganz im Gegenteil. Der einzige Grund, warum Tony mit dreiundzwanzig noch zu Hause wohnte, war, dass es seiner Mutter das Herz gebrochen hätte, wenn er ausgezogen wäre.
    »Aber wir werden nicht bei ihnen wohnen, wenn wir erst einmal verheiratet sind«, sagte er. »Das würde sie nicht erwarten. Wir nehmen uns eine Wohnung in der Stadt oder drüben in York.«
    »Dort, wo die Pfefferminzbonbons herkommen?«
    »Genau
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