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Was die Toten wissen

Was die Toten wissen

Titel: Was die Toten wissen
Autoren: Laura Lippman
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zu schließen, »dass ich kurz davor war, diese charmante Frau einzuladen, uns zu begleiten. Wie war die Reise, Sunny? Bist du müde? Möchtest du dich bei mir ein bisschen aufs Ohr legen oder lieber erst was essen? Wann bist du heute Morgen aufgestanden? Hat es sehr lang gedauert, hierherzukommen?«
    Bloß dreißig Jahre , hätte Sunny am liebsten geantwortet. Dreißig Jahre und eine Öllache auf der Autobahn.
    Stattdessen entschied sie sich für etwas Einfacheres, etwas, von dem sie wusste, dass ihre Mutter es verstehen würde. Sie wählte ein Bedürfnis, das ihre Mutter, jede Mutter, befriedigen konnte. Ebenso wie Max in Wo die wilden Kerle wohnen war sie des wilden Getöses überdrüssig geworden, war nach Hause gesegelt und hatte ihr Wolfskostüm abgelegt. Sie wollte dort sein, wo sie geliebt wurde, selbst wenn sie glaubte, dass sie schon vor langem ihren Anspruch auf bedingungslose Liebe verwirkt hatte.
    »Ich habe Hunger«, sagte sie. »Im Flugzeug kriegt man nichts Vernünftiges mehr zu essen, nicht in der Touristenklasse, aber ich bin ja auch schon lange nicht mehr geflogen – seit ich ein kleines Mädchen war und wir zusammen nach Ottawa geflogen sind.« Ein kurzer Blick zurück, wie sie und Heather mit den gleichen Kleidern ausstaffiert worden waren; Heather peinlich darauf bedacht, tadellos auszusehen. Verdammt, Heather hatte sofort gewusst, dass Tony ein Dreckskerl war, gleich nachdem sie ihn das erste Mal gesehen hatte. Mit elf, fast zwölf war sie viel klüger als ihre fünfzehnjährige Schwester gewesen. »Können wir was essen gehen?«
    Die Frauen hakten sich unter und traten hinaus ins grelle Sonnenlicht der chaotischen Straße, wo Javier brüllen musste, um das Dröhnen eines vorbeifahrenden Busses zu übertönen. Sunny hatte keine Ahnung, was er wollte, aber nach seinen ausdrucksstarken Gesten zu urteilen, schien er sagen zu wollen,
dass sie sich sehr ähnlich sähen, dass sie wunderschön seien, Mutter und Tochter endlich wieder vereint. Er hakte seine Finger ineinander, um ihre Nähe zu demonstrieren.
    Sie sah ihn an. Jetzt, wo sie wusste, wo die Gaumenspalte war, was an der Stelle fehlte, fürchtete sie sich nicht mehr davor, ihm ins Gesicht zu sehen. Wenn sie nur ebenso einfach der Welt zeigen könnte, was ihr fehlte. Wer könnte da noch seinen Blick von ihr abwenden, ihr nicht direkt in die Augen schauen?
    »Gracias« , sagte sie, und dabei fiel ihr das wichtigste Wort ein, das man sagen konnte, das ihr einst so viel bedeutet hatte, selbst wenn es unaufrichtig oder unverdient war, gar nicht ernst gemeint. Indem sie vorgab, Heather zu sein, war es Sunny gelungen, Heather wieder zum Leben zu erwecken, und dies war etwas, das sie niemals bereuen würde. Von all den Menschen, die sie jemals gewesen war oder noch sein würde, war Heather Bethany ihre Lieblingsperson. » Gracias , Javier.«

ANMERKUNGEN DER AUTORIN
    Zum Eröffnungsspiel der Washington Nationals 2005 zog ich mit ein paar Freunden los, alle um die vierzig und alle aus Baltimore oder Washington. Als wir an der Wheaton Plaza Mall vorbeikamen, verstummte die ausgelassene Unterhaltung abrupt, und wir sahen uns an.
    »Erinnert ihr euch?«, fragte einer. Wir wussten alle sofort, was gemeint war. Wir waren Teenager gewesen, als zwei Mädchen, Sheila und Katherine Lyon, am 25. März 1975 in der Nähe dieser Mall verschwanden. Das Geheimnis um ihr Verschwinden ist nie geklärt worden. Sie ließen ihre Eltern und zwei Brüder zurück, eine Familie, die nichts mit der Bethany-Familie gemeinsam hatte. Warum habe ich dann also für diese vollkommen frei erfundene Geschichte über die beiden vermissten Mädchen ein Datum vier Tage später gewählt?
    Das hatte ich anfänglich gar nicht beabsichtigt, obwohl ich für die Handlung der Geschichte das Osterwochenende brauchte. Aber nachdem ich die Zeitungen aus dieser Zeit durchgeblättert hatte, stellte sich heraus, dass sich das Jahr 1975 am besten für die Geschichte eignete, die ich erzählen wollte. Es wäre unverzeihlich, nicht eindeutig klarzustellen, dass dieser Roman nichts mit dem Familiendrama der Lyons zu tun hat. Aber ich würde lügen, wollte ich die Ähnlichkeit beim Datum abstreiten.
    Es versteht sich von selbst, dass die Leute im Verlag entscheidend zum Gelingen eines Buches beitragen. Meine Lektorin Carrie Ferron und ihre Assistentin Tessa Woodward haben
wahrlich außergewöhnliche Arbeit geleistet und wurden von allen bei Morrow/Avon tatkräftig unterstützt – derer da sind Lisa
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