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Was dein Herz nicht weiß

Was dein Herz nicht weiß

Titel: Was dein Herz nicht weiß
Autoren: S Park
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wissen wollten, was die Erwachsenen machten, nachdem sie ihren Nachwuchs ins Bett gebracht hatten. Würde irgendein magischer Funke überspringen, ein mysteriöser Zauber über die beiden kommen?
    »Was wollen Sie von mir?«, fragte Soo-Ja, als sie allein waren.
    »Das habe ich doch schon gesagt. Ein Rendezvous.«
    Soo-Ja seufzte und nahm die Maske ab. Das also steckte hinter dem ganzen Theater: ein liebeskranker Junge, der von einer Art Fieber befallen war, wie der jüngste Spross einer Familie mit einer Erbkrankheit. Soo-Ja wusste nicht, was sie sagen sollte, nur, dass es mitten in der Nacht war und nicht gerade ein romantischer Moment. Sie trat einen Schritt zurück und lehnte den Kopf ans Tor, sodass sie neben ihm stand. Auf diese Weise mussten sie sich nicht mehr direkt anschauen. Sie betrachtete ihre Straße durch Mins Augen: die Scharonrosen, die dicht am Boden blühten und sich zwischen Stein und Beton hindurcharbeiteten, die Reihen von Akazien, die sich nach einem langen Tag voller Sonne vom Schattenspenden erholten und sachte mit ihren Zweigen im Wind wedelten.
    »Es tut mir leid, aber ich glaube, das geht nicht«, erklärte Soo-Ja und wandte sich ab. Sie sehnte sich nach ihrem Zimmer, doch als sie das Tor öffnen wollte, zögerte sie und blieb ganz still unter einer Lampe stehen. Sie beobachtete die Libellen, die um sie herumtanzten. »Gehen Sie jetzt bitte. Ich will nicht, dass mein Vater herauskommt und Sie hier sieht.«
    Min legte die Hand auf das Tor, damit sie es nicht öffnen konnte. »Er verprügelt wohl gern Ihre Verehrer?«
    »Nein, er quält sie lieber mit langen Geschichten über französische Missionare.«
    Dann, wie aufs Stichwort, hörte Soo-Ja die unverkennbaren Schritte ihres Vaters. Sie spielte kurz mit dem Gedanken, Min hinter einem der Bäume zu verstecken, aber genau in dem Moment, als sie seinen Arm packte, kam der Vater heraus. Soo-Ja ließ sofort los, denn sie spürte den missbilligenden Blick ihres Vaters auf der Haut.
    Sie ahnte, wie wütend er war, aber sie wusste auch, dass er sie nicht tadeln würde – nicht nach dem, was er ihr an diesem Tag schon alles verboten hatte. Diesmal musste er ihr verzeihen, so wie die Grundherren ihren Bauern einen einzigen Feiertag gewährten, damit sie den Rest des Jahres über brav auf den Feldern arbeiteten.
    »Komm wieder herein«, befahl er ihr nur, drehte sich um und ging.
    Soo-Ja stand da wie angewurzelt. Ihr Herz klopfte. Sie fragte sich, ob sie Min je wiedersehen würde. Er schaute sie an, und das Weiße in seinen Augen schimmerte im Dunkeln. Soo-Ja erwiderte seinen Blick. Wäre sie als Frau nicht zur Passivität verdammt gewesen, hätte sie ihn vielleicht geküsst. Er stand ratlos herum und hatte keine Ahnung, wie er mit der Herausforderung umgehen sollte, wie er den Fluss überqueren oder die Seeschlange besiegen sollte. Er sah aus wie ein kleiner Junge, den man an den Tisch der Erwachsenen gebracht und zum Vorsingen aufgefordert hatte. Ein großes Mundwerk hatte er vielleicht, aber er war kein Romeo. Er war ja kaum ein Mercutio.
    »Gute Nacht«, sagte Soo-Ja schließlich.
    »Gute Nacht«, wiederholte er. Plötzlich schien er aufzuwachen – als hätte sie einen Bann gebrochen – , drehte sich um und rannte fort, als wäre jemand hinter ihm her. Er sah sich nicht mehr um.
    Seollal, nach dem Mondkalender das Fest des neuen Jahres, begann schon früh am Morgen. Soo-Ja wachte auf, als sie hörte, wie ihr Vater fröhlich die Verwandten im Haupthaus begrüßte. Schon um sechs Uhr waren die ersten angekommen, Tanten und Onkel, die Soo-Ja eigentlich nicht zur Familie zählte, weil sie sie so selten sah – nur an den beiden hohen Festtagen Seollal und Chuseok , dem Erntedankfest. Einen Moment lang war sie versucht, im Bett liegen zu bleiben, aber sie wollte ihre Ahnen nicht enttäuschen – Seollal war nämlich der Tag, an dem man ihrer gedachte. Sie schob die schwere Steppdecke von sich, stand auf und taumelte zum Kleiderschrank, in dem ihr Sortiment an Hanboks auf sie wartete.
    Der Hanbok war die traditionelle, formale Kleidung, bestehend aus einer kurzen Jacke, die mit einem großen Band namens Ot-ga-reom zusammengehalten wurde, und einem langen Wickelkleid, das oben eng anlag, nach unten aber so weit auslief wie ein Brautkleid. Im Unterschied zu Kleidungsstücken aus Baumwolle oder Nylon hing der Hanbok nicht lose herunter, weil die dicke, von Hand aufbereitete Seide so viel Volumen hatte, dass es beinahe aussah, als schwebte der Stoff
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